Polypharmazie Der Hausarzt als Steuermann

Grundlage der Untersuchung waren die Daten aller rund 350 000 Versicherten der HKK-Krankenversicherung. Mehr als 263 000 von diesen hatten im Jahr 2010 mindestens ein Arzneimittel verordnet bekommen. Bei 35,6 % wurde eine Polypharmazie festgestellt.Nicht sonderlich überraschend ist, dass die Polypharmazie mit dem Alter der Patienten zunimmt: In der Altersgruppe ab 65 Jahren stieg die Rate auf 61,3 %.
Mehr Krankheiten, mehr Medikamente
Bei Patienten, bei denen mehrere Krankheiten gleichzeitig diagnostiziert wurden, ist Polypharmazie erwartungsgemäß besonders häufig. Bei 25,3 % aller HKK-Versicherten, denen im Jahr 2010 Arzneimittel verschrieben wurden,
wurden im gleichen Jahr mindestens 20 Krankheiten diagnostiziert. Nahmen die Patienten fünf bis zehn Arzneimittel gleichzeitig ein, stieg der Anteil der von Multimorbidität Betroffenen auf 41,9 %. Bei elf bis 15 Arzneimitteln erhöhte sich diese Zahl auf 55,8 %, bei 16 und mehr Arzneimitteln sogar auf 82,4 %.
Mehr Ärzte bedeuten höheres Polypharmazie-Risiko
Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass mit einer steigenden Zahl behandelnder Ärzte auch das Polypharmazie-Risiko zunimmt. Wurden sie nur von einem Arzt behandelt, betrug der Anteil der Polypharmazie-Betroffenen immerhin bereits 10 %. Bei zwei Ärzten stieg er auf 30,8 %, bei drei Ärzten auf 56,7 %. Bei vier Ärzten waren sogar 79,1 % aller Patienten betroffen. Von den Versicherten, die von fünf und mehr Ärzten behandelt wurden, waren nahezu 100 % von Polypharmazie betroffen. Mit 63 % stammte der größte Teil aller Arzneimittelverordnungen von Hausärzten – auch bei den Versicherten mit fünf und mehr Arzneimitteln. Mit weitem Abstand folgten Kinderärzte (9 %) sowie Internisten (6 %).
Nach einer 2011 im Gesundheitsmonitor der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichten Befragung unter Polypharmazie-Patienten fehlt den meisten jedes Problembewusstsein: 72 % der Patienten glaubten, dass alle ihre Ärzte einen genauen Überblick darüber haben, welche Mittel die anderen Ärzte verschrieben haben. Patienten, die von Polypharmazie betroffen sind, beurteilten dabei die Qualität der Beratung insbesondere durch ihre Hausärzte als besonders gut.
Hausarzt sollte koordinieren
Der Hausarzt genießt also hohes Vertrauen und wäre somit prädestiniert, eine koordinierende Funktion bei der Arzneimittelverordnung einzunehmen. Das sieht auch der Vorsitzende des Bayerischen Hausärzteverbands, Dr. med. Dieter Geis, so. „Der Hausarzt muss die zentrale Stelle sein, bei der alle medizinischen Informationen über den Patienten zusammenlaufen, damit die Therapien in Absprache mit den Spezialisten gezielt koordiniert und eine für den Patienten gefährliche Polypharmazie vermieden werden kann.“ Diese zeitaufwendige Überprüfung der gesamten Medikation eines Patienten durch den Hausarzt müsse dann allerdings auch eigens honoriert werden, fordert Geis. Er befürchtet allerdings, dass durch die Streichung der Praxisgebühr Patienten sich nun noch ermutigt fühlen könnten, Spezialisten unkoordiniert aufzusuchen und der Hausarzt sich somit nur noch einen unzureichenden Überblick über eine laufende Medikation verschaffen kann.
Zehn Minuten gegen Polypharmazie
Auch die Autoren der HKK-Studie schreiben dem Hausarzt eine wichtige Rolle zu. Er habe durch sein besonderes Vertrauensverhältnis den besten Zugang zum Patienten und könne daher einer Polypharmazie am erfolgreichsten gegensteuern. Hausärzte sollten bei Patienten mit Polypharmazie regelmäßig „10-Minuten-Reviews“ über die Menge und die Art aller insgesamt vom Patienten einzunehmenden Arzneimittel durchführen. Studien hätten gezeigt, dass damit deren Anzahl signifikant reduziert werden kann.
Darüber hinaus benötige man aber eine langfristige Strategie, so die Autoren. Tatsächlich fehlten medizinische Leitlinien zur Behandlung multimorbider Patienten. Hinzukommen sollten außerdem Leitlinien über die Nichtverordnung bestimmter Arzneimittel bei Polypharmazie, die riskante Medikamente für ältere Menschen umfassen. Außerdem könnte man die beratende Rolle der Apotheken stärken, indem man sie dazu verpflichtet, Arzneimittelübersichten zu erstellen.
Dr. Ingolf Dürr
Was macht Polypharmazie zum Problem?
Im Falle von Polypharmazie entstehen häufig schon durch die Anzahl der gleichzeitig eingenommenen unterschiedlichen Arzneimittel gravierende gesundheitliche Probleme. Darüber hinaus können die spezifischen Eigenschaften verordneter oder selbst beschaffter Arzneimittel zu weiteren Neben- oder Wechselwirkungen führen.
Mit jedem zusätzlichen Arzneimittel steigt bei Patienten die Wahrscheinlichkeit unzureichender Therapietreue durch Vergessen, Verunsicherung und Verängstigung – etwa nach der Lektüre von fünf oder mehr Beipackzetteln oder durch die rein physischen Schwierigkeiten einer gleichzeitigen und dann noch regelmäßigen Einnahme von mehr als fünf Arzneimitteln.
Mit mehr und unterschiedlichen Wirkstoffen aus verschiedenen Arzneien nimmt die Wahrscheinlichkeit von bekannten, aber vor allem auch unbekannten Nebenwirkungen oder unangenehmen bis gefährlichen Wechselwirkungen zu. Die theoretisch denkbare Anzahl der Möglichkeiten von Arzneimittelkombinationen und -wechselwirkungen steigt von vier bei drei gleichzeitig verabreichten Arzneimitteln auf 26 bei fünf Medikamenten und auf 247 bei acht Arzneien.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (4) Seite 72-73
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.