Sterbehilfe Die Rückkehr des „Medizinmanns“?
Nichts ist im Leben eines Menschen so sicher wie der Tod.
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Nichts ist im Leben eines Menschen so sicher wie der Tod. Aber auch nichts so ungewiss wie die Umstände, unter denen er den Menschen trifft. Kann eine Gesellschaft diese Ungewissheit „kontrollieren“, indem sie den Tod „planbar“ macht? Zum Beispiel durch eine Erlaubnis für Ärzte, an Suiziden mitzuwirken? Dem Deutschen Bundestag liegen aktuell 4 höchst unterschiedliche Gesetzesentwürfe vor, die im Herbst 2015 beraten werden. Es ist schon jetzt klar, dass es bei dieser Entscheidung nicht nur um den Willen einzelner Patienten geht. Es geht immer auch um das Arztbild unserer Gesellschaft, um das Selbstverständnis von Krankenhäusern und Altenpflegeeinrichtungen. Und es geht um die Reichweite der Fundamentalnorm: "Du sollst nicht töten!"
Keine einfachen Antworten
Hoffmann und Knaup haben sich vor allem mit den ethischen Aspekten befasst. Sie stellen im Ergebnis die Sterbehilfe insgesamt infrage, auch den Tod von wirklich eigener Hand. In der "Praktischen Philosophie" gehe es um konkrete Lebensfragen. Etwa um eine heute weit verbreitete innere Einstellung zu Leben und Tod: Beides werde in der Gesellschaft zunehmend nicht mehr als etwas „Gegebenes“, als „Schicksal“ hingenommen, sondern als etwas „Gemachtes“, also auch als etwas „Machbares“.
Auch Argumenten, die eine Suizidbeihilfe mit der „Würde des Menschen“ und seiner „Selbstbestimmtheit beim Sterben“ betonen, misstrauen Hoffmann und Knaup. Sie haben erhebliche Zweifel, ob Suizidenten in der Regel wirklich „frei“ und nicht aus Verzweiflung handeln oder sonst unter innerem oder äußerem Druck stehen. Ihre Sorge ist zudem, dass die Gesellschaft zunehmend akzeptieren könnte, dass aus individuellen oder demografischen, oft ökonomischen Gründen Druck auf nicht wirklich Sterbewillige ausgeübt wird. Schließlich seien Behandlung und Pflege Schwerstkranker für die Angehörigen wie für die Allgemeinheit teuer und belastend.
Historischer Wertewandel
Hoffmann hat die Einstellung zum Suizid in der europäischen Kultur-, Medizin- und Ethikgeschichte untersucht. Von der Antike bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Suizid dabei stets aus individualethischer Sicht gesehen: „Ist das, was hier geschieht, für die Einzelperson gut oder schlecht?“ Seit dem 19. Jahrhundert habe sich der Blickwinkel verschoben auf „Was bedeutet der Suizid für die Gesellschaft? Lässt er sich gesellschaftlich verwalten?„ „Erst diese Verschiebung ermöglichte es zu fragen: Können wir ein Gesetz verabschieden, das Ärzten die Mithilfe erlaubt?“, so Hoffmann.
Die Geschichte des Arztes, wie wir sie heute kennen, begann mit Hippokrates und seinem Eid. Darin werden das Töten eines Menschen und die Hilfe beim Selbstmord ausdrücklich verneint. Das unterscheide den Arzt von Medizinfrau und Medizinmann, die heilen und töten. Und so stellt Hoffmann die Frage: „Wollen wir wirklich, dass der Medizinmann – im weißen Kittel – wiederkommt?“
„Pflicht zu sterben“?
Der Wertewandel könnte durch die demografische Entwicklung beeinflusst werden. Lebten 2013 in Deutschland 4,4 Millionen Menschen, die mindestens 80 Jahre alt waren, werden es – so das Statistische Bundesamt – im Jahre 2060 rund 9 Millionen sein. „Was machen wir mit all den alten Leuten?“, könnte sich dann, so Knaup, als gesellschaftliche Frage stellen. In den 1990er Jahren gab es in der westlichen Hemisphäre eine zunächst abstrakte Diskussion: „Gibt es eine ‚Pflicht zu sterben?“ 1997 bejahte der US-amerikanische Medizinethiker John Hardwig dies, betont Hoffmann: „Wenn eine Großmutter durch eine Behandlung 3 Monate länger lebt, die Familie darunter jedoch 10 Jahre lang wirtschaftlich leidet – dann soll sie nach Hardwig besser sterben.“ 2008 äußerte sich die britische Medizinethikerin Lady Helen Mary Warnock dahingehend, dass Demente ökonomische Ressourcen und Lebenszeit von Angehörigen verschwenden und man sie deshalb töten können sollte. Knallharte ökonomische Interessen werden hier ohne Umstände gegen das Grundrecht auf Leben ins Feld geführt! Dass Menschen auch in anderen als ökonomischen Verhältnissen zueinander stehen, kommt gar nicht mehr in den Blick, so der Philosoph Knaup.
Wegen der demografischen Entwicklung, „also ökonomisch begründet“, wurden laut Hoffmann in der Schweiz auch 2003 „die Türen der Altenheime für Sterbehelfer geöffnet“, als die dortige Akademie der medizinischen Wissenschaften entsprechende standesrechtliche Empfehlungen für Ärzte formulierte, die sie 2004 nach Protesten allerdings wieder abschwächte.
Suizid oft nicht selbstbestimmt
Auch Knaup nimmt Sorgen bzgl. möglicher Überlegungen von Verwandten ernst – wie „Im Altenheim geht das ganze Erbe weg, vielleicht regeln wir das anders …“. Auch insofern ist für ihn ein (Mit-)Entscheidungsrecht von Verwandten bedenklich. Sorgen machen ihm Tendenzen, wie sie in einer Studie mit Ärzten im belgischen Flandern im Jahre 2007 zutage traten: Demnach wurden 30 % der Euthanasien ohne Zustimmung der Betroffenen durchgeführt. In Deutschland hätten wir diese Debatte noch nicht, es gebe aber bei uns auch Stimmen, die Euthanasie für Demente begrüßen, warnt Knaup. Und zwar nicht nur aus einer rechten Szene, sondern auch aus der Wissenschaft. Dabei werde der Kreis derjenigen, die in eine legale Tötung einbezogen werden sollen, immer größer – Demente im Frühstadium und „Lebensmüde“, schwerkranke Kinder und psychisch Kranke werden zunehmend als Kandidaten für ein vorzeitiges Ableben angesehen. Dessen seien sich viele, die mitreden, nicht bewusst, sie argumentieren aus spontanem Mitleid im Einzelfall heraus.
Darf sich jemand selbst töten?
Dass eine Selbsttötung einen Widerspruch enthält, hat nach Marcus Knaup besonders Kant herausgearbeitet. "Eine Handlung, durch die sich das Freiheitswesen Mensch selbst aufhebt, ist nach Kant nicht frei, sondern immer fremdbestimmt! Ebenso ist jede Mitwirkung an der Selbsttötung eines Menschen immer heteronom, niemals autonom, also aus Vernunft selbstbestimmt." "Autonomie" und "Menschenwürde" werden nach Knaup heute oft in einem Sinne gebraucht, der philosophisch nicht haltbar sei, sondern auf Willkür hinauslaufe: Menschenwürdig sterben heiße z. B. nicht, im Bewusstsein des Verfügenkönnens über das Leben sterben; es heiße zu wissen, dass das Leben unverfügbar ist: für einen selbst und auch für andere! Er sieht seine Ablehnung auch durch psychologische Ergebnisse bestätigt: Die Selbsttötungshandlung ist demnach häufig gar nicht so frei, wie es scheint, sondern durch z. B. Krankheiten beeinflusst. „Es wäre besser, Depressionen und andere Krankheiten zu behandeln, als sie zusammen mit dem Menschen auszulöschen“, meint Knaup.
Gesetzlich geregeltes Ableben
Für die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung spricht Hoffmann von einer „Thanato-Politik“: dem Versuch der Politik, auch das Sterben der Menschen zu einer gesellschaftlichen Funktion zu machen. Der Staat maße sich immer mehr Kompetenzen über das Leben (und Sterben) seiner Bürger an: Alles müsse in geregelten Bahnen verlaufen, von der Zeugung bis zur Bahre. Demgegenüber gelte: Auch im Blick auf die Lebenden ist die „staatliche Regelungswut nicht wünschenswert“.
Ins Bild dieser Politik passt das Gesetzgebungsverfahren. Hoffmann kritisiert, dass die Gesetzgebung keine inhaltliche Norm vorgibt, sondern dass sie die Norm an die gesellschaftliche Entwicklung anpasst. Im Hinblick auf die Frage, ob Ärzte beim Sterben assistieren können sollen, stellt er fest: „Dafür muss man den Selbstmord bejahen.“
Würdevolles Sterben: Beistand statt Sterbehilfe
Hoffmann fragt daher, wie man helfen kann, die gesellschaftliche Norm „Du sollst nicht töten“ zu erfüllen. Eine zentrale Antwort: Die Hospize in Deutschland seien vorbildlich, sie müssen weiter gestärkt werden. Werde jedoch die Unterstützung beim Selbstmord zur Norm, wird der Boden für Hospize dünner.
Knaup fordert, ähnlich wie Hoffmann: „Man muss an der Hand eines anderen Menschen sterben. Nicht durch die Hand eines anderen! Das ist würdevolles Sterben. Und Sterbehilfe wird so zum Sterbebeistand.“ Noch besser als in den auch von ihm gelobten Hospizen sei der Sterbebeistand durch die und in der Familie. Große Angst verursache jedoch das Alleinsein. Die Palliativmedizin will nicht das Leben (und Sterben) verlängern, sondern behandelt Schmerzen und andere Beschwerden.
„Das Töten ist ein unsittlicher Akt!“ Daraus ergibt sich auch für Knaup, dass Töten keine ärztliche Aufgabe sein kann – wie im Eid des Hippokrates festgelegt: „Wer das ändern will, hat eine Bringschuld!“
Der Inhalt dieses Beitrags gibt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Prof. Dr. Thomas Sören Hoffmann und Dr. Marcus Knaup
beide vom Institut für Philosophie der Fernuniversität in Hagen, haben einen Sammelband herausgegeben mit dem Titel: „Was heißt: in Würde sterben? Wider die Normalisierung des Tötens“, der Beiträge aus Philosophie und Theologie, Medizin und Rechtswissenschaft umfasst.
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (17) Seite 92-94
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.