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Diese Distanz geht mir nahe

Autor: Dr. Jörg Vogel

Manchmal möchte man seine Patienten in den Arm nehmen dürfen – einfach, weil es sonst keiner tut. Manchmal möchte man seine Patienten in den Arm nehmen dürfen – einfach, weil es sonst keiner tut. © iStock/gdefilip; MT
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Der verordnete Mangel an körperlicher Nähe besorgt unseren Kolumnisten. Soll dieses berührungslose Verhalten wirklich zur Norm unseres Zusammenlebens für die nächsten Jahre werden?

Während der Coronakrise sind viele Leute recht lange nicht zum Arzt gegangen. Auch nicht in Krankenhäuser. Kein Wunder, ihnen wurde von höchster politischer Seite davon abgeraten. Die verheerenden Bilder zur besten Sendezeit im Fernsehen taten ihr übriges. Viele stationäre Einrichtungen konnten auch gar keine „normalen“ Patienten aufnehmen, weil sie sich für COVID-19-Erkrankte bereithalten mussten – oder die Katastrophe einer iatrogenen Infizierung vermeiden wollten. Nun traten jedoch viele unerkannte oder unbehandelte andere Erkrankungen zutage, und diese bedingten Todesfälle. Forderte die Coronakrise über diesen Umweg etwa mehr Opfer als die eigentliche Pandemie selbst? Ich weiß es nicht.

Inzwischen strömen die Menschen wieder in die Praxis. Sie hatten zu Hause sehr viel Zeit und einen Computer. Und da muss wohl jemand empfohlen haben: „Lasset ein groooßes Blutbild machen!“ Infolgedessen ist dies gegenwärtig der häufigste Wunsch aller Altersgruppen.Wenn ich die Leute frage, was sie sich davon versprechen, und warum ein großes und kein kleines Blutbild, wissen sie darauf keine Antwort. Seit laborblasse Virologen das Zepter übernommen haben, zählen scheinbar nur noch messbare Werte. Und darauf erheben die Menschen jetzt Anspruch. Wozu auch immer ...

Vielleicht hat daran aber auch eine ganz andere Coronafolge Schuld: der verordnete Mangel an menschlicher, sprich körperlicher Nähe. Das macht mir – ehrlich gesagt – große Sorgen. Soll dieses berührungslose Verhalten wirklich zur Norm unseres Zusammenlebens für die nächsten Jahre werden? So wie es einige Virologen und Politiker im Brustton der Überzeugung behaupten? Höchstens noch eine Begrüßung per Anstupsen mit Ellenbogen oder gar mit den Füßen, wie es einige Menschen ernsthaft praktizieren?

Dabei sind wir Deutschen gegenüber Menschen in südeuropäischen Ländern sowieso schon die reinsten „Kühlschränke“. Jeder, der mal nach Spanien oder Italien gereist ist, kann es bestätigen: Dort gehört der (angedeutete) Wangenkuss links und rechts bei Begrüßung und Abschied zur Tradition. Es zeigt Lebensart und nationale Identität. Man redet auch viel mehr miteinander.

Deshalb war es für mich auch kein Wunder, dass es diese Länder derart schlimm mit COVID-19 erwischt hat. Obwohl der Begrüßungskuss auch hierzulande allmählich zum ganz normalen Bestandteil des zwischenmenschlichen Lebens aller Altersgruppen gehört. Zugegeben, ich selbst mochte die Küsserei unter Freunden (im Gegensatz zu meiner Frau) nie. Aber ein guter vertrauensvoller Händedruck, der fehlt mir schon. Nun auf Jahre vorbei?

Auch im Umgang mit meinen Patienten vermisse ich die Körperlichkeit. Einen Menschen zu untersuchen, ist das eine. Ihn durch eine FFP2-Maske hindurch und ohne sichtbare Mimik zu beraten, das andere. Manchmal möchte man als Arzt auch mal einen Patienten oder eine Patientin in den Arm nehmen dürfen. Ganz einfach, weil es sonst keiner tut. So wie jene Frau, Anfang Fünfzig, die gerade den verzweifelten Kampf gegen ihr Pankreaskarzinom verlor. Ich konnte ihr in meiner therapeutischen Hilflosigkeit nichts mehr geben als diesen Augenblick menschlicher Nähe. Ohne jede Anzüglichkeit. Sie empfand sie als wohltuend. Ist das in Zukunft also nicht mehr möglich?

Auch bei den derzeitigen Fortbildungsangeboten spürt man diese menschliche Entfremdung. Der Bildschirm ersetzt eben nicht den „körperlichen“ Kongress und den emotionalen Aspekt eines Fachvortrages. Mal abgesehen vom persönlichen Austausch mit lieben Kollegen, die man sonst nur selten trifft. Vielleicht ist dieses Leben auf Abstand im Moment wirklich notwendig. Aber auf Jahre hinaus sollten wir uns das nicht antun. Sonst wird es tatsächlich kälter im menschlichen Zusammenleben.

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