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Es ist okay, eine halbe Stunde zugetextet zu werden

Autor: Dr. Cornelia Tauber-Bachmann

„Ich glaube, das Zuhören hat sich gelohnt.“ „Ich glaube, das Zuhören hat sich gelohnt.“ © iStock/Bojan89
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Das Thema in unserer Praxiskolumne: Geschwätzige Patienten und was man davon hat, ihnen zuzuhören.

Sie war die erste Patientin in der Nachmittagssprechstunde. Eine jünger gekleidete und jünger wirkende Siebzigjährige, die sich zum ersten Mal bei mir vorstellte. Sie meinte, sie brauche in ihrem Alter jetzt einen Hausarzt, in diesem Fall eine Hausärztin. Wenn ich auch nie so ganz verstehe, warum erst ältere Menschen einen Hausarzt brauchen, so begrüßte ich sie natürlich und stellte ihr die in vielen Seminaren gelernte offene Frage: „Was führt Sie zu mir?“

Da wir Ärzte und Ärztinnen ja, statistisch gesehen, unsere Patienten nach spätestens 25 Sekunden unterbrechen, wollte ich erst mal die von allen Seiten geforderten drei Minuten abwarten bis zu meinem ersten Einwurf. Ich blieb also still und hörte zu. Das sollte ich bald bereuen, denn die Dame legte so richtig los: Eigentlich sei sie nie krank gewesen. Und wenn sie sich krank gefühlt habe, sei sie immer gleich zum entsprechenden Facharzt gegangen. Sie habe auch alle Befunde dabei und mit diesen Worten überreichte sie mir einen USB-Stick. Ihre Lumbalgie von vor fünf Jahren, die mit Physiotherapie wunderbar behandelt wurde, schilderte sie mir ausgiebig über fast zehn Minuten.

Und auch ihr Leidensweg mit den Besenreiser-Varizen wurde blumig und ausführlich dargelegt. Gelegentlich war sie wohl auch beim Pneumologen vorstellig geworden, aber Sprays brauche sie nicht. Und eigentlich sei ich ja als Hausärztin für die zwar teilweise unangenehmen, aber nicht so schwerwiegenden Krankheiten und für die Gesamtschau zuständig. Grrrrr, innerlich begann ich zu knurren. Ärztin für die leichten Fälle!

Aber wie und an welcher Gelegenheit auch immer, ich fand keine Möglichkeit, ihren Redefluss zu unterbrechen, und sei es nur durch eine Zwischenfrage. Dabei konnte ich schon allein durch Zusehen und Zuhören erkennen, dass sie einen Tic mit einer sich wiederholenden ruckartigen Halsbewegung hatte, dass sie schwer atmete und dass ihre Augen zumindest die Abklärung eines M. Basedow dringend erforderten. Nun ja, aber vielleicht hatten die fachärztlichen Kollegen schon alles erledigt?

Meine Bedenken, einen fremden USB-Stick auf meinen Praxiscomputer zu spielen, wischte sie mit der Bemerkung weg, sie sei jahrezehntelang im Software-Bereich tätig gewesen. Und Ausdrucken sei doch Papierverschwendung. Außerdem sei der Stick mit einem Passwort geschützt, meinte sie und vertraute mir dieses sofort an. Gut, dass ich am Wochenende noch nichts Spezielles vorhabe, dachte ich resigniert – außer die Facharztbefunde der Dame aus vermutlich 40 Jahren zu lesen.

Nach einer halben Stunde war der Redefluss der Patientin dann plötzlich versiegt. Sie schaute mich erwartungsvoll an. Ich konnte meine Fragen zu ihrer eigenen Anamnese, der Familienanamnese und ihrer sozialen Situation stellen und bekam sie relativ strukturiert beantwortet. Mit Untersuchung, Lungenfunktion und Blutentnahme sowie Sonographie war sie sofort einverstanden. Und als ich sie danach an meine MFA „weiterreichte“ und mich verabschiedete, bedankte sie sich bei mir.

Sie bedankte sich fürs Zuhören! Ich glaube, diese halbe Stunde Zuhören hat sich gelohnt. Und mit einem „Danke“ kriegt man mich immer wieder rum. Auch beispielsweise, um die Dateien auf dem USB-Stick zu lesen. Zwar nicht am Wochenende, nicht auf dem Praxiscomputer, aber vor dem Erhalt der Laborergebnisse.

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