Anzeige

Gepanschte Zytostatika – keiner weiß, wen es getroffen hat

Gesundheitspolitik Autor: Ruth Bahners

Sie machten als Apothekenmitarbeiter auf die Manipulationen aufmerksam: die Whistleblower Marie Klein und Martin Porwoll (http://bit.ly/corctiv). Sie machten als Apothekenmitarbeiter auf die Manipulationen aufmerksam: die Whistleblower Marie Klein und Martin Porwoll (http://bit.ly/corctiv). © correctiv.ruhr
Anzeige

In mehr als 60.000 Fällen soll ein Apotheker Krebsmedikamente abweichend von Verordnungen geliefert haben. Patienten sind in Sorge. Das Verfahren am Landgericht Essen beginnt im November, es bahnt sich einer der größten Medizin-Skandale der deutschen Nachkriegsgeschichte an.

Nach einer stillen Mahnwache Anfang Oktober vor der „Alten Apotheke“ in Bottrop kamen Patienten und ihre Angehörigen vergangene Woche erneut an den Ort des Geschehens – diesmal zu einer Demo. Sie verleihen mit den Aktionen ihrer Forderung nach Aufklärung über die Folgen der Arzneimittelfälschungen Nachdruck. Denn sie fühlen sich schlecht informiert, auch von ihren behandelnden Ärzten.

Schwierige Suche

„Für die betroffenen Praxen ist es sehr, sehr schwer, im Nachhinein Aussagen zu treffen, ob und welchen Schaden der Apotheker bei ihren Patienten angerichtet hat“, erklärt Professor Dr. Stephan Schmitz, Vorsitzender des Berufsverbandes der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen (BNHO). Die Kollegen hätten bereits alle relevanten Patientenakten ausgewertet, um Auffälligkeiten wie keine Wirkung oder auffallend wenig Nebenwirkungen zu finden. Bis auf einen Fall hätten sie jedoch keine Hinweise gefunden. Prof. Schmitz wies im Gespräch mit Medical Tribune darauf hin, dass selbst die Staatsanwaltschaft als federführende Ermittlungsbehörde bis heute weder Angaben über die Anzahl der betroffenen Patienten machen könne noch dazu, in welchem Ausmaß deren individuellen Präparate verfälscht wurden. Die Kollegen seien für jeden Patienten gesprächsbereit. Hunderte solcher Gespräche hätten bereits stattgefunden. Doch alle betroffenen Patienten anzuschreiben, macht nach Auffassung von Prof. Schmitz keinen Sinn. „Das würde die Verunsicherung nur noch vergrößern.“

Derjenige, der Licht ins Dunkel bringen könnte, schweigt. Seit zehn Monaten sitzt der 47-jährige Apotheker in Untersuchungshaft. Peter S. ist angeklagt wegen gewerbsmäßigen Betrugs und Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz sowie wegen Verstoß gegen Hygienevorschriften. Von 2012 bis 2016 soll er in 61.980 Fällen in seinem Reinraumlabor Zubereitungen für Chemotherapien und monoklonale Antikörper verdünnt, als vollwertige Arzneimittel abgegeben und in 59 Fällen zu Unrecht mit den Krankenkassen abgerechnet haben. Der Schaden der Kassen wird von der zuständigen Staatsanwaltschaft Essen auf 56 Mio. Euro beziffert. Den Vorwurf der Medikamentenfälschung stützt die Staatsanwaltschaft auf Aussagen ehemaliger Mitarbeiter, vor allem aber auf einen Abgleich der eingekauften Wirkstoffe mit den abgegebenen Zubereitungen. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft sind 50 verschiedene Medikamente betroffen, mit Abweichungen von 20 bis 80 % bei der zulässigen Dosierung. Der konkrete Schaden für den einzelnen Patienten sei schwierig zu ermitteln, so die Staatsanwaltschaft. Bisher wurde auch nur in 27 Fällen Anklage wegen des Verdachts der versuchten Körperverletzung erhoben. Denn nur 27 fertige Präparate, die nachweislich eigenhändig von Peter S. hergestellt wurden, hätten die Ermittlungsbehörden bei der Festnahme des Apothekers sicherstellen können.

Ärztekammer rät: Patienten sollten beim Arzt nachfragen

Allein in Nordrhein sollen 13 medizinische Einrichtungen mit Krebsmedikamenten aus der Bottroper Apotheke beliefert worden sein. Die Ärztekammer Nordrhein hat die betroffenen Praxen im Rahmen ihrer Berufsaufsicht angeschrieben, um zu erfahren, wie die betroffenen Patienten von ihren Ärzten informiert wurden. Patienten, die unsicher sind, ob sie ebenfalls mit zu niedrig dosierten Krebstherapeutika behandelt wurden, sollten sich direkt mit ihrem behandelnden Arzt in Verbindung setzen, rät die Kammer. Doch ob die Praxen tatsächlich sagen können, ob und welche Patienten mit gepanschten Therapeutika behandelt wurden, ist fraglich. Denn es ist nicht mehr nachprüfbar, welche Qualität die aus Bottrop gelieferten Produkte im Einzelnen hatten. Präparate aus der Apotheke sollen auch an wissenschaftlichen Studien beteiligt gewesen sein. Das Bundesinstitut für Arzneimittelsicherheit (BfArM) hat bisher 30 klinische Studien identifiziert, deren Teilnehmer aus der Apotheke beliefert wurden. Vorsorglich weist das BfArM darauf hin, dass Sponsoren dieser klinischen Prüfungen dies der zuständigen Bundesoberbehörde unverzüglich anzeigen sollten. Auch das Paul-Ehrlich-Institut hat einen vergleichbaren Aufruf gestartet.
Anzeige