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Heimbewohner werden zu schnell zum Notfall erklärt

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Leerfahrten des Rettungswagens werden in den meisten Regio­nen nicht bezahlt, also wird der Bewohner des Pflegeheims im Zweifel lieber mitgenommen. Leerfahrten des Rettungswagens werden in den meisten Regio­nen nicht bezahlt, also wird der Bewohner des Pflegeheims im Zweifel lieber mitgenommen. © Christian Schwier – stock.adobe.com
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Fast dreieinhalb Millionen Menschen sind in Deutschland pflegebedürftig. 800 000 von ihnen leben in Pflegeheimen. Die Bewohner werden allerdings nicht immer optimal versorgt, das betrifft auch die Notfallintervention.

Die AOK Bremen/Bremerhaven startete mit den Universitäten Bremen und Oldenburg das Projekt „Hospitalisierung und Notaufnahmebesuche von Pflegeheimbewohnern“. Erste Ergebnisse des bis 2020 laufenden und vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses mit fast einer halben Mio. Euro geförderten Projekts liegen jetzt vor.

Die Wissenschaftler um Projektleiter Professor Dr. Falk Hoffmann von der Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften der Universität Oldenburg hatten anonymisierte Routinedaten von AOK-Versicherten für die Jahre 2014 und 2015 analysiert. Im Fokus standen dabei Notaufnahmebesuche ohne stationären Aufenthalt, die Nutzung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes sowie akute Krankenhausaufenthalte.

Im Durchschnitt fast drei akute Maßnahmen pro Jahr

1665 Personen wurden erfasst, zwei Drittel davon Frauen. 45 % der Bewohner waren zwischen 80 und 89 Jahre alt. Die Mehrheit aller Studienteilnehmer litt an kardiovaskulären Erkrankungen (90 %), an hormonellen, Ernährungs- und Stoffwechselerkrankungen (76 %) und psychiatrischen Erkrankungen (69 %). 1062 hatten die Pflegestufe 1, 462 Pflegestufe 2 und 141 die Stufe 3.

Die höchste Rate an akuten Interventionen wurde in der Gruppe der 70- bis 79-Jährigen verzeichnet mit 2,8 Interventionen pro Jahr. Im Schnitt waren es 2,7 Einsätze, wobei Männer in allen Altergruppen häufiger betroffen waren als Frauen.

Am Wochenende wird der ärztliche Notdienst gerufen

Die ambulanten Notaufnahmekontakte bezogen sich nahezu ausschließlich auf Verletzungen, während der ärztliche Bereitschaftsdienst aufgrund eines großen Spektrums an möglichen Diagnosen gerufen wurde. „Auffällig sind auch die Wochen­tagsunterschiede, die gegen die oft gehörte Meinung sprechen, dass Heimbewohner vor allem an Wochenenden ins Krankenhaus kommen“, berichtet Prof. Hoffmann. Tatsächlich wird am häufigsten an Samstagen und Sonntagen der ärztliche Bereitschaftsdienst gerufen, die Zahl der Krankenhausaufnahmen ist am Wochenende am geringsten.

Der Allgemeinarzt Dr. Guido Schmiemann vom Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen, ist als Versorgungsforscher an der Studie beteiligt. In einem Teilprojekt wurde von ihm und einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin zwölf Monate lang (bis Juli 2019) die Zahl der Notaufnahmen und Krankenhausaufenthalte in 14 Bremer Pflegeheimen betrachtet. 802 Bewohner wurden in die Analyse einbezogen, von diesen war die Hälfte dement.

In dem gesamten Jahr erfolgten 627 Notaufnahmen und Klinikaufenthalte, Mehrfachereignisse mitgezählt. Dr. Schmiemann verweist auf Ängste vor rechtlichen Konsequenzen: „Der Pflegedienst ruft die 112. Der Disponent, der den Anruf entgegennimmt, haftet persönlich für seine Entscheidung, also wird er im Zweifel eher einen Rettungswagen alarmieren. Der wird für Leerfahrten in den meisten Regio­nen nicht bezahlt, also nimmt er im Zweifel den oder die Bewohnerin des Pflegeheims mit. Das ist ein Automatismus. Wir müssen Wege finden, wie wir da herauskommen.“

Als eine weitere Ursache identifizierten die Wissenschaftler Mängel in der Kommunikation. Heim und Ärzte arbeiteten oft nicht strukturiert zusammen, sodass in der Hälfte der Fälle die Praxis nicht über Symp­tome des Patienten informiert worden war, berichtet der Versorgungsforscher. „Es wäre hilfreich, wenn Praxis und Heim dieselben Informationen hätten, die gleiche Akte, den gleichen Medikamentenplan.“

Für das AOK-Projekt wurden auch 1221 Hausärzte sowie Rettungsdienste befragt. Weitere Veröffentlichungen der Ergebnisse sind zurzeit in Vorbereitung. Zugleich sind die Wissenschaftler dabei, auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse geeignete Interventionen zur Verbesserung der Versorgung zu entwickeln.

Es lohnt sich dazu vielleicht ein Blick in die Hauptstadt. In Berlin bieten seit Jahren gesetzliche Krankenkassen über einen Selektivvertrag nach § 73a SGB V eine Blaupause zur ärztlichen Heimversorgung an. Bei dem Projekt sind in 27 Pflegeeinrichtungen angestellte und niedergelassene Ärzte für eine medizinische Rund-um-die-Uhr-Betreuung der Bewohner vertraglich gebunden.

Es ist zum Erbarmen

Einen Bericht zum Projekt „Hospitalisierung und Notaufnahmebesuche von Pflegeheimbewohnern“ im „Deutschen Ärzteblatt“ kommentiert Dr. Alfred Stennes, bis September 2018 mit eigener Praxis für Allgemeinmedizin in Velbert: „Dieser Missstand ist mir seit 20 Jahren in meiner Praxis ein ewiges Ärgernis. Selbst über 100-Jährige werden aus rein forensischen Gründen des Nachts in die Klinik gebracht.“ Ein anderer Leser schreibt: „Es ist in der Tat zum Erbarmen diese vielen alten Menschen mit Frakturen, blutenden Verletzungen, exazerbierender Verwirrung, Infektionen, Schädel-Hirn-Traumen in den Notaufnahmen zu sehen.“ Er sieht den Grund in der Entsolidarisierung und fehlenden qualifizierten Pflegekräften und hofft, dass die neue Versorgungsforschung sinnvolle Hinweise zum Handeln geben kann.

Berliner Projekt macht vor, wie gute Kooperation helfen kann

Pflegedienstleiter Jens Seefeldt vom Curanum Psychiatrisches Pflegezentrum Am Wannsee, lobt die 24/7-Versorgung durch Hausarzt und Psychiaterin in seinem Haus: „Ist die persönliche Erreichbarkeit nicht gegeben, so haben die Pflegekräfte die Möglichkeit telefonisch oder per Mail die Ärzte zu kontaktieren und die Ärzte antworten zeitnah.“ Damit würden die Behandlungszeiten reduziert, eine mögliche Therapie werde schneller begonnen und somit eine mögliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Bewohners verzögert bzw. verhindert. Bewohner würden auch weniger ins Krankenhaus eingewiesen, da die Ärzte die Anamnese und den Verlauf der Erkrankungen besser einschätzen könnten. „Solche Möglichkeiten lässt der Gesetzgeber zu, sie werden aber zu selten genutzt“, kommentiert Prof. Hoffmann. „Wir sehen auch, dass es in einzelnen Heimen bzw. Regionen funktioniert. Es hängt aber immer von engagierten Personen ab.“ Es lasse sich leider auch nicht durch Gesetzesänderungen erreichen.

Medical-Tribune-Bericht

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