Hausärztliche Versorgung Lokalen Gesundheitszentren gehört die Zukunft

Gesundheitspolitik Autor: Ingolf Dürr

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Unter welchen Bedingungen lässt sich eine qualitativ hochwertige ambulante medizinische Versorgung insbesondere in ländlichen Regionen auch in Zukunft noch sicherstellen? Mit dieser Frage beschäftigte sich der 13. Baden-Württembergische Hausärztetag in diesem Jahr besonders intensiv. Eingeladen hatte man dazu den Gesundheitsweisen Prof. Dr. med. Ferdinand M. Gerlach, seines Zeichens selbst Allgemeinarzt. Und der präsentierte eine dezidierte Meinung: Einzelpraxen sind nach wie vor gewünscht, aber nur kooperative Strukturen werden die Versorgungsprobleme wirklich lösen können.

Besonders bemerkenswert beim diesjährigen Hausärztetag in Stuttgart war, dass die sonst übliche, oft heftige Diskussion mit Politikern um die Hausarztzentrierte Versorgung (HzV) dieses Mal komplett ausfiel. Man hatte noch nicht einmal einen Politiker für das Podium eingeladen. Der Grund: Die HzV ist im Ländle flächendeckend akzeptiert und implementiert, streiten muss man sich anscheinend höchstens noch um Details. Folglich konnte und wollte man sich mit grundsätzlicheren Problemen wie dem Hausärztemangel auseinandersetzen, der auch in Baden-Württemberg – aber natürlich nicht nur dort – immer spürbarer wird. Über 30 % der Hausärzte im Südwesten sind über 60 Jahre alt. Jährlich geben rund 300 Hausärzte ihre Praxis auf. Dem gegenüber stehen allerdings nur etwa 120 Facharztprüfungen in der Allgemeinmedizin. In den nächsten Jahren werden also mehr als 500 Hausärzte fehlen, skizzierte Dr. Frank-Dieter Braun, der 2. Vorsitzende des Hausärzteverbands Baden-Württemberg, die angespannte Situation.

Hausarztmedizin am Scheideweg

Braun lieferte damit den idealen Einstieg für den namhaften Hauptreferenten des Tages, Prof. Ferdinand M. Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR), Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) und Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt/Main.

Für Gerlach steht die Hausarztmedizin in Deutschland derzeit an einem Scheideweg. Nur jeder zweite Hausarzt, der aus Altersgründen ausscheidet, finde auch einen Nachfolger. Einen Grund für den mangelnden Nachwuchs sieht Gerlach darin, dass der Hausarztberuf ein Imageproblem habe. Immer noch gelte er bei vielen als der Arzt für alles und nichts. Es fehle an einem klaren Profil, und das Selbstwertgefühl der Hausärzte sei oft zu schwach ausgebildet. Nicht zuletzt mache auch das ständige „bad mouthing“, also das Schlechtreden des eigenen Berufsstands, bei der jungen Medizinergeneration nicht unbedingt Lust darauf, Hausarzt zu werden, kritisiert Gerlach.Andererseits bestünden durchaus Anlässe zur Hoffnung. International sei die Hausarztmedizin nämlich im Aufschwung. Dort messe man ihr einen höheren Stellenwert zu, weil man erkannt habe, dass man damit die Patientenströme besser steuern und die Grundversorgung sicherstellen könne, und dass man damit vor allem auch kosteneffektiver, also finanziell günstiger fahre. Positiv bewertet Gerlach auch, dass die Allgemeinmedizin an den Universitäten inzwischen deutlich stärker dastehe. In 26 von 38 Fakultäten gibt es bereits selbstständige Institute für Allgemeinmedizin. Außerdem registriere man ein zunehmendes Interesse von Studierenden am Fach Allgemeinmedizin. Auch seitens der Politik erfahre die Hausarztmedizin derzeit viel Zuspruch.

Am wichtigsten aber sei das hohe Vertrauen, das die Patienten allen Umfragen zufolge ihren Hausärzten noch immer entgegenbrächten. Dieses Vertrauen beruhe aber wesentlich noch auf einem überkommenen Bild des Hausarztes aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, als Landärzte noch selbst operierten, Entbindungen vornahmen, Knochenbrüche behandelten und rund um die Uhr für ihre Patienten da waren.

Arbeiten im Team

Für den medizinischen Nachwuchs von heute seien solche Lebens- und Arbeitsentwürfe allerdings kein Vorbild mehr. Es stelle sich daher die Frage, wie viel man von dem Vertrauensvorschuss noch in die Zukunft retten kann, in Anbetracht der Tatsache, dass der Hausarzt der Zukunft eine Hausärztin sein wird, dass die Familie eine immer größere Rolle spielen wird und junge Ärzte nicht mehr in dem Umfang wie früher bereit sind, das Risiko der Selbstständigkeit auf sich zu nehmen, sondern lieber angestellt und eventuell in Teilzeit arbeiten wollen. Die Einzelpraxis werde es zwar auch in Zukunft noch geben, so Gerlach, aber der Trend gehe klar in Richtung von mehr Kooperation.

Man benötige daher innovative Versorgungsansätze für den ländlichen Raum. Wie diese aussehen könnten, schilderte Gerlach an einem Modell, das der Sachverständigenrat im vergangenen Herbst der Bundesregierung vorgelegt hatte. Im Mittelpunkt des SVR-Konzepts stehen lokale Gesundheitszentren für die Primär- und Langzeitversorgung, sogenannte LGZ. Dort schließen sich Ärzte, VERAHs, MFAs und auch Pflegekräfte auf lokaler Ebene zusammen. Solch ein LGZ kann entweder praxisgestützt sein, das heißt von einzelnen Praxen ausgehen, die sich schrittweise erweitern und vergrößern. Es könnte sich aber auch aus einem kleinen Landkrankenhaus heraus entwickeln, an das eventuell noch ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ), eine geriatrische Tagesklinik und ein Pflegedienst angedockt sind. Diese kooperative Struktur des LGZ müsse ergänzt werden durch einen verbesserten Zugang von Patienten und zu Patienten, z. B. über mobile Praxen, Hol- und Bringdienste sowie durch spezielle Angebote für Ältere und chronisch Kranke (vgl. Abb. 1).

In einem solchen LGZ arbeiten dann 4 bis 6 Hausärzte. Vorstellbar wäre, dass es „Liäson-Sprechstunden“ grundversorgender Spezialisten gibt. An einem Nachmittag käme dann z. B. ein Urologe ins LGZ, an einem anderen Tag eine Gynäkologin. Solch ein lokales Gesundheitszentrum würde es ermöglichen, die Arbeitsbelastung des einzelnen Arztes zu reduzieren, man könne in Teilzeit arbeiten, eine Kinderbetreuung einrichten usw.

Die Primärversorgungspraxis der Zukunft werde also eine Teampraxis sein, so Gerlach, um gleich darauf hinzuweisen, dass das Konzept der LGZ keine völlige Abkehr von der Einzelpraxis bedeute. Man freue sich über jeden Hausarzt, der einen Nachfolger für seine Praxis findet. Die steigende Komplexität der Anforderungen weise aber immer mehr in Richtung einer koordinierten Versorgung. Ein Hausarzt versorge ja nicht nur Patienten, er sei auch Personalmanager, EDV-Beauftragter, Hausmeister, Abrechnungskünstler. Er müsse sich um das gesamte Management eines Kleinbetriebs kümmern. Gleichzeitig würden die Patienten immer anspruchsvoller. Allein schon aus diesen Gründen würden es Einzelpraxen in Zukunft sehr schwer haben, meint Gerlach. Mit den LGZ hingegen könne man eine effizientere, leistungsfähigere Struktur auf hohem Qualitätsniveau in ländlichen Regionen sicherstellen.

Immer weniger Hausärzte

Bundesweit scheiden im Jahr 2015 – und auch in den Folgejahren – rund 2 200 Hausärzte aus der vertragsärztlichen Versorgung aus, aber nur 10 % der nachrückenden Medizinergeneration wollen in die Allgemeinmedizin gehen. Seit 1992 sei zudem die Zahl der Spezialisten überproportional um fast 57 % gestiegen, während die Hausärzte ein Minus von 10 % hätten hinnehmen müssen. Derzeit steuerten die Vertragsärzte auf ein Verhältnis von 60 % Spezialisten gegenüber 40 % Hausärzten zu. Wenn das so weitergehe, werde dies nicht nur Auswirkungen auf die Versorgung, sondern auch auf die Berufspolitik haben. Denn dann werde es demnächst in den Vorständen der KVen und Kammern keine Hausärzte mehr geben, prophezeit Professor Gerlach.

Hausarztzentrierte Versorgung ist auf dem richtigen Weg

Um die Attraktivität des Landarztberufes zusätzlich zu steigern, empfiehlt der SVR einen auf 10 Jahre festgelegten Vergütungszuschlag in Höhe von 50 % für alle Ärzte, die in Planungsbereichen mit einem Versorgungsgrad von unter 90 % bei Hausärzten bzw. 75 % bei grundversorgenden Spezialisten arbeiten. In Österreich gebe es eine solche „Erschwernis-Zulage“ schon seit 20 Jahren, und sie habe sich bewährt.

Zur Freude der anwesenden baden-württembergischen Hausärzte und ihrer Verbandsvertreter lobte Professor Gerlach noch einmal die Hausarztzentrierte Versorgung, bei der der Südwesten Vorreiter ist. Denn hier habe man bereits die ersten richtigen Weichen gestellt. So fördere das Einschreibemodell in die HzV die freiwillige Bindung in der Primärversorgung. Eine kontaktunabhängige Pauschale trage dazu bei, die Kontakt-Frequenzen zu senken. Und schließlich werde die Teamleistung (Bsp. VERAH) gefördert und auch besser honoriert. Baden-Württemberg sieht der Gesundheitsweise Gerlach daher auf einem guten Weg.


Autor:
Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (7) Seite 30-34
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.

Das Podium beim Hausärztetag in Stuttgart: (v. l. n. r.) Dr. Berthold Dietsche  (Vorsitzender des Hausärzteverbands Baden-Württemberg),  Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach und  Dr. Alexis von Komorowski (stv. Hauptgeschäftsführer des  Landkreistags Bad.-Württ.) stellten sich den Fragen. Das Podium beim Hausärztetag in Stuttgart: (v. l. n. r.) Dr. Berthold Dietsche (Vorsitzender des Hausärzteverbands Baden-Württemberg), Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach und Dr. Alexis von Komorowski (stv. Hauptgeschäftsführer des Landkreistags Bad.-Württ.) stellten sich den Fragen.
Abb. 1: Das Modell des Sachverständigenrats für die ambulante medizinische Versorgung der Zukunft in ländlichen Regionen. Abb. 1: Das Modell des Sachverständigenrats für die ambulante medizinische Versorgung der Zukunft in ländlichen Regionen.