Stationäre Altenhilfe Mehr Kooperation tut not

Häufige Defizite bei der Kooperation liegen – auch bei schwieriger Evidenzlage [1] – in den versorgungsrechtlichen, wirtschaftlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen sowie in der intra- bzw. interprofessionellen Kooperation und Kommunikation [2]. In der stationären Pflege der exemplarischen Praxiseinrichtung werden in 4 Pflegebereichen knapp 100 Pflegeplätze offeriert. Diese Bewohner werden zum Zeitpunkt des Projektstarts von 26 Hausärzten versorgt. Sie betreuen jeweils zwischen 1 und 7 Bewohner. Es werden bereits Ansätze einer abgestimmten ganzheitlichen pflegerischen und medizinischen Ver-sorgung verwirklicht, gleichermaßen besteht aber noch Verbesserungsbedarf.
In der Einrichtung trat zum 01.01.2017 ein Kooperationsvertrag nach § 119b SGB V mit Regelungen zur Vergütung der zusätzlichen ärztlichen Kooperations- und Koordinations-leistungen innerhalb des EBM in Kraft. Zunächst wurde auf Grundlage einer vertrauensvollen Zusammenarbeit die einheitliche Versorgung aller Bewohner durch einen kassenübergreifenden Versorgungsvertrag angestrebt. Dies erwies sich als unmöglich, da die Partialinteressen der Kostenträger zu weit auseinanderlagen. Es wurde stattdessen eine Kooperation zwischen Einrichtung und Ärzten auf Grundlage des §119 b SGB V geprüft, verabschiedet und der KV Baden-Württemberg im Jahr 2014 erstmalig vorgelegt. Nach umfassenden Kommunikationsschleifen auf verschiedenen Akteurebenen wurden im Juli 2016 die neuen Gebührenordnungspunkte für die Leistungen und Vergütung im Rahmen einer Kooperation nach §119 b SGB V aufgenommen und ein Musterkooperationsvertrag seitens der KV bereitgestellt.
Ziele eines gemeinsamen Versorgungsvertrags
Seit Januar 2017 sind 4 Arztpraxen mit insgesamt 10 Ärztinnen und Ärzten an dem Modell beteiligt. Der Kooperationsvertrag bezieht sich auf Bewohner der vollstationären Pflegeeinrichtung und auf Kurzzeitpflegegäste. Er soll eine kooperative und koordinierte ärztliche sowie pflegerische Versorgung von Versicherten in der stationären Pflegeeinrichtung sicherstellen. Erforderlich sind hierzu insbesondere eine regelmäßige Betreuung der Bewohner sowie eine enge Kooperation zwischen den Vertragspartnern. Die regelmäßige Betreuung und alle in der Vereinbarung vorgesehenen oder empfohlenen ärztlichen und pflegerischen Maßnahmen werden dabei nur durchgeführt, wenn der Bewohner oder sein gesetzlicher Vertreter dem zustimmt. Das Recht auf freie Arztwahl bleibt unberührt.
Bausteine kooperativer Zusammenarbeit
- Gemeinsame Visiten von Arzt und Pflegefachkraft im 14-tägigen, maximal dreiwöchigen Rhythmus
- Gegenseitiger Vertretungsplan und Rufbereitschaft der Ärzteschaft, werktäglich von 08.00 Uhr bis 18.00 Uhr, telefonischer Bereitschaftsdienst von 18.00 Uhr bis 08.00 Uhr
- Benennung eines Koordinationsarztes zur Koordination der Ärzte untereinander
- Gemeinsame elektronische Dokumentation unter strenger Beachtung des Datenschutzes
- Standardisiertes Anamneseblatt (von den Kooperationsärzten entwickelt)
- Erstgespräch mit Bewohnern mit dokumentierter Fallbesprechung unter Einbezug der Ärzte, Pflegekräfte und Angehörigen
- Fallbesprechung und engmaschige Begleitung der Bewohner bei Verschlechterung des Allgemeinzustandes
- Erstellung eines Einweisungsspiegels und Diskussion auf Ärzteebene im Rahmen einer halbjährlichen Durchführung eines Qualitätszirkels
- Einrichtung eines interdisziplinären Arbeitskreises zur Vermeidung von Polypharmazie
Ärzte und Pflegeeinrichtung verfolgen gemeinsam das Ziel, die an der Versorgung der Bewohner beteiligten Berufsgruppen miteinander zu vernetzen und die Zusammenarbeit zu stärken.
Bausteine der gelungenen Versorgung
Die Kooperationsregelungen beruhen auf langjährigen Erfahrungen einer vertrauensgeprägten Kooperation der Vertragspartner. Entsprechend war es möglich, vor Vertragseinführung insbesondere die Einweisungsdiagnosen von Bewohner/innen mit Krankenhauseinweisungen im Expertenteam von Ärzten und Wissenschaftlern zu betrachten. Die ausgewerteten Daten der Entlassungsbriefe legten nahe, dass ein nicht unerheblicher Teil stationärer Krankenhausaufenthalte von Heimbewohnern bei entsprechender Betreuung vermeidbar gewesen wäre. Zwar sind Pflegeheimbewohner aufgrund ihres Alters und der im Alter abnehmenden Organfunktionen sowie der multiplen (durchschnittlich 6,8 Diagnosen) und chronischen Erkrankungen anfälliger für Krankheiten und Ereignisse, die zu einer Krankenhauseinweisung führen. Es war aber zu vermuten, dass eine Einweisung ins Krankenhaus häufig aus "diagnostischer Unsicherheit" und mangelnden Informationen heraus aufgrund von Verdachtsdiagnosen erfolgte, um eventuelle schwerwiegende Folgen für die Bewohner zu vermeiden. Häufige Aufnahmeursachen in solchen Situationen waren Sturzfolgen, endokrine Stoffwechselerkrankungen, wie Diabetes, Exsikkose, eine Verschlechterung des Allgemeinzustandes, zerebrovaskuläre Erkrankungen, wie Synkope oder fieberhafte Infekte, Erbrechen oder Diarrhoe und Schmerzen.
Allgemeine Ziele der optimierten Versorgung
- Verbesserung der Kooperation der ärztlichen und pflegerischen Versorgung
- Verbesserung der Versorgungs- und Lebensqualität der Bewohner
- Verringerung von Krankenhauseinweisungen und Krankentransporten bzw. Inanspruchnahme des Bereitschafts- und Rettungsdienstes
- Verbesserung der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Versorgung insbesondere durch Vermeidung von Doppeluntersuchungen, Definition von Prozessen und Einführung von Standards, optimiertes Arzneimittelmanagement, indikationsgerechte Heil- und Hilfsmittelversorgung
Die zudem erfolgte Auswertung der verordneten Medikamente pro Bewohner (durch-schnittlich 7,9, bis zu 14 Medikamente) ergab einen deutlichen Hinweis auf eine Polypharmazieproblematik. Mithilfe der Zuordnung der DRG konnten außerdem Einsparpotenziale ermittelt werden.
Anhand der Darstellung der Therapie im Krankenhaus wurde mit den gesprächsbereiten niedergelassenen Ärzten vor Ort diskutiert, welche Therapien im Rahmen einer veränderten und koordinierten Betreuung im Pflegeheim durchgeführt werden könnten. In gemeinsamen Workshops wurden Bausteine definiert, die für die Versorgung dienlich sind [3] und im Vertrag abrechnungswirksam berücksichtigt werden.
Weniger Klinikeinweisungen durch kooperatives Handeln
Damit die Kooperation nachhaltig ist, bedarf es einer kontinuierlichen Evaluation des ge-meinsamen Handelns und ggf. Anpassungen. Zur Überprüfung der eingeführten Maßnahmen wurden deshalb u. a. anhand der Entlassungsbriefe und des erstellten Einweisungsspiegels die Einweisungsdiagnosen begleitend detailliert betrachtet. Ziel war, Ereignisse, die eine ungeplante Krankenhauseinweisung erforderlich machten, durch eine kontinuierlich angepasste koordinierte Versorgung zukünftig zu vermeiden und darzustellen, inwieweit sich die Krankenhauseinweisungen nach Einführung der Maßnahmen reduzieren lassen. So wurden neben den qualitativen Expertengesprächen insbesondere Patientendaten der im Versorgungsmodell eingeschriebenen Bewohner mit denen der nicht eingeschriebenen Bewohner verglichen und erste positive Ergebnisse sichtbar.
Darüber hinaus wurden die Daten der aktuell im Versorgungsmodell eingeschriebenen Bewohner mit denen des Vorjahres vor Vertragsbeginn verglichen und auch hier erste positive Ergebnisse sichtbar. Die Experten in der Diskussionsrunde kamen zu der Erkenntnis, dass durch die engmaschigere ärztliche Betreuung der Pflegebedürftigen, die definierte Erreichbarkeit und Vertretungsregelungen unter den Ärzten sowie die intensivere interprofessionelle Zusammenarbeit und gemeinsame Dokumentation eine deutliche Reduzierung der Krankenhauseinweisungen wegen einer Verschlechterung des Allgemeinzustands der Bewohner erreicht werden konnte.
Respektvolles Miteinander ist wichtig
Deutlich wird, dass die Umsetzung kooperativer Versorgungsverträge kein "Selbstläufer" ist, sondern vom persönlichen Engagement einer koordinierenden Person abhängig ist. Im Modellfall werden die beteiligten Akteure von einer erfahrenen neutralen Person koordiniert. Diese ist in der Lage, aufgrund ihrer Biografie die eingebundenen Hausärzte vertrauensvoll einzubeziehen, und verfügt über den entsprechenden Rückhalt in der Organisation. Sie fungiert in diesem Sinne als Kommunikator, Koordinator sowie Mediator bei auftretenden Missverständnissen. Grundvoraussetzung für eine gelungene Umsetzung ist generell ein respektvoller und wertschätzender Umgang miteinander, der sich primär an der bestmöglichen Versorgung der Bewohner orientieren muss.
Literatur1. Balzer K, Butz S, Bentzel J, Boulkhemair D, Lühmann D (2013) Beschreibung und Be-wertung der fachärztlichen Versorgung von Pflegeheimbewohnern in Deutschland. Hg. v. Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (Health Technology Assessment (HTA) in der Bundesrepublik Deutschland, 125)
2. Heyden B, Esslinger AS (2015) Auf dem Weg zu einer kooperativen medizinischen Versorgung von Pflegeheimbewohnern. Anspruch und Wirklichkeit. In: Bettig U, / From-melt M, / Roes M, Schmidt R, Thiele G (Hrsg.) Management Handbuch Pflege Online. medhochzwei Verlag, Heidelberg
3. Heyden und Esslinger 2015.
Autorin:
Prof. Dr. Adelheid Susanne Esslinger
Hochschule Fulda, Fachbereich Pflege & Gesundheit
36037 Fulda
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (6) Seite 30-33
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.