Universitäre Allgemeinmedizin Professionalisierung eines Fachgebietes

Ihren Ursprung sieht die akademische Allgemeinmedizin im Jahr 1966, als der erste Lehrauftrag der Medizinischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg an den Praktischen Arzt Dr. med. Siegfried Häussler vergeben wurde. Schauen wir also zunächst zurück in die 1960er-Jahre und betrachten die Anfänge aus der Sicht Häusslers, um die historische Bedeutung dieses ersten großen Schrittes zu begreifen.
Die Spezialität, nicht spezialisiert zu sein
Die Zunft der Praktischen Ärzte kämpfte zu dieser Zeit mit der Diskrepanz zwischen Klinik und Praxis Abb. 1). Abseits der universitären Forschung galt der Praktische Arzt als ausgegrenzt, seine Disziplin als nicht-fakultätsreif. Verschiedene spezialisierte klinische Fächer waren bereits an den Universitäten institutio-
nalisiert – den Praktischen Ärzten hielt man jedoch eben diese fehlende Spezialisierung als großen Makel vor. Ihnen fehlte es an berufsgruppenspezifischer Identität, Qualifikationsnachweisen, selbstbestimmter Fortbildung und universitärer Verankerung. Auf ihnen lastete der Druck, sich klar zu definieren. Es bestand für sie daher die Notwendigkeit der Institutionalisierung, um Akzeptanz, wenn nicht sogar die Daseinsberechtigung zu erlangen (s. Tabelle 1).
Noch im Jahre 1969, drei Jahre nach eben dieser Institutionalisierung durch die Vergabe des Lehrauftrags, sagte der inzwischen habilitierte Häussler in seiner Antrittsvorlesung: "Die Allgemeinmedizin befindet sich in der Gegenwart in einer strukturellen, methodischen und ideellen Krise. Krisen entstehen immer beim Übergang zu neuen Ordnungen. Solche werden in der Zukunft der Allgemeinmedizin von der Gesellschaft und der Medizin als Wissenschaft in einem kybernetischen Regelkreis mit der Allgemeinmedizin selbst entwickelt werden." Sollte er Recht behalten?
Der Weg aus der Krise
Um sich aus dieser Krise in Richtung der ersehnten Ordnung zu bewegen, genügte natürlich nicht allein das Engagement Einzelner. Es bedurfte vielmehr des Zusammenspiels vieler kleiner Faktoren, welche die Mühle der Identitätsfindung vorantrieben: Internationale Kongresse, Praxisforschung, Gründung allgemeinmedizinischer Organisationen (darunter die wissenschaftliche Fachgesellschaft DEGAM) sowie verschiedene bedeutende schriftliche Werke trugen zum Kampf gegen die Inferiorität dieser Disziplin bei. Aber auch den Gesprächen zwischen Praktischen Ärzten und Vertretern der Hochschule war es schließlich zu verdanken, dass die Allgemeinmedizin zunehmend akzeptiert wurde.
Nicht zuletzt wurde ein wichtiger Schritt zur Integration der Allgemeinmedizin erstaunlicherweise von keiner geringeren Gruppe getan als von der Studentenschaft selbst, welche die Bedeutung der Praktischen Medizin erkannte. Noch im Jahr 1965 beklagte sie "zu wenig soziale Medizin" und forderte einen "patienten- und problemorientierten Unterricht" anstatt eines Unterrichts, der "ausschließlich an der klassischen klinischen Krankheitenlehre orientiert" ist. Eben diese Forderung nach einem stärkeren Praxisbezug legte schlussendlich den Grundstein für die spätere Einführung von Pflichtfamulatur und Blockpraktikum im hausärztlichen Versorgungsbereich.
Das Problem der Definition
Doch wie sollte am Ende dieses Kampfes um die Identitätserlangung die Definition der Allgemeinmedizin selbst lauten (Abb. 2)? Ebenso wie Mader in seinem Vortrag die Besonderheit der ersten DEGAM-Leitlinien damit beschreibt, dass diese das Beratungsproblem von der Beratungsursache, also in der Regel vom Symptom aus anpacken, muss wohl auch die Definition der Allgemeinmedizin von der "symptomatischen Seite" angepackt werden. Im Gegensatz zur krankheitsbezogenen Spezialisierung ist die Allgemeinmedizin demnach auf eine Funktion spezialisiert. Sie hat es mit dem unausgelesenen Krankengut an der ersten ärztlichen Linie zu tun.
Häussler brachte die Kernaufgabe der Allgemeinmedizin auf den Punkt: "Dem Menschen in seinem gesamten Lebensbereich in Gesundheitsführung und Krankheitsbehandlung, unabhängig von Alter, Geschlecht und Art der Gesundheitsstörung, zu helfen."
Was haben die Allgemeinärzte erreicht? Wo stehen sie heute? Ihr Fachgebiet Allgemeinmedizin ist an den Universitäten institutionalisiert, zahlreiche Leitlinien der DEGAM und mehr als ein Dutzend deutschsprachiger Lehr- und Fachbücher sind im Praxisalltag verankert – die Allgemeinmedizin ist heute eine wissenschaftlich respektierte und anerkannte Disziplin. Der Weg hierher war steinig und ist es noch. So bedarf es wohl weiterer engagierter Persönlichkeiten nach dem Vorbild Häusslers, um sich den anstehenden Herausforderungen auf dem Feld der Allgemeinmedizin zu stellen. Beate Happinger◾
Den kompletten Festvortrag von Prof. Dr. med. Frank Mader finden Sie als Manuskript hier
Frank H. Mader, Ein halbes Jahrhundert Allgemeinmedizin: Die Angewandte Heilkunde von der Funktion zum Fach. Festvortrag anlässlich der Jubiläumsfeier "50 Jahre universitäre Allgemeinmedizin", Freiburg, 9. Juli 2016
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (14) Seite 31-34
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.