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Vor Corona ist nicht gleich nach Corona

Autor: Dr. Günter Gerhardt

Braucht es wirklich eine Krise, um die Meinungen und das Wissen von Experten zu schätzen? Braucht es wirklich eine Krise, um die Meinungen und das Wissen von Experten zu schätzen? © Igor Link – stock.adobe.com; MT
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Wie könnte die Zeit nach der Corona-Krise aussehen? Wenn alles gut läuft, wird man gelernt haben: Es lohnt sich auf Wissenschaftler, Mediziner und Pflegende zu hören.

Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat sich gerade daran versucht, eine Welt nach der Corona-Krise zu zeichnen. Eine Welt, die eine andere sein wird. Dabei spricht er von historischen Momenten, also solchen, in denen die Zukunft die Richtung ändert, sodass nichts mehr so ist, wie es mal war. Als jemand, der sich seit Jahrzehnten mit der medizinischen Versorgung von Menschen beschäftigt – an der Patienten-Front und auf gesundheitspolitischer Ebene –, hoffe ich inbrünstig, dass er recht hat.

Auch wenn seine Methode erst mal kompliziert klingt: Mich hat Herr Horx inspiriert, mithilfe einer RE-Gnose, wie er den Blick aus der Zukunft zurück in die Gegenwart bezeichnet (statt PRO-gnose), schon jetzt, mitten in der Krise, einen Blick auf die Richtungsänderung der Zukunft zu werfen. Nicht aus Spielerei. Sondern um mögliche Erkenntnisse daraus zugunsten der medizinischen Versorgung der Menschen in unserem Land zu nutzen. Ich vermute, dass Herr Horx Verständnis dafür hat, wenn wir seine RE-Gnose-Methode für unsere Visionsprozesse nutzen.

Wir versetzen uns also heute, im Frühjahr 2020, in den Herbst 2020 und blicken zurück auf das, was in diesem Zeitraum passiert ist. Dazu gehört zum Beispiel: Sämtliche Talk­runden beschäftigen sich nur noch mit dem Thema SARS-CoV-2. Ganz Deutschland hängt plötzlich an den Lippen der Virologen, Epidemiologen, Infektiologen und Hygienspezialisten, der Ärztinnen, Ärzte, Kranken- und Altenpflegenden. Wir erleben, dass Politiker diesen Helden, wie man sie plötzlich nennt, zuhören und dass die Bundes- und Landesregierungen den Rat der Expertinnen und Experten annehmen und in die Tat umsetzen. Ich reibe mir die Augen und frage mich, wohin das führen soll.

Und weiter: Entsprechende Anreize und politische Weichenstellungen führen dazu, dass die Wissenschaft an der Entwicklung von antiviralen Medikamenten und Impfstoffen dranbleibt und nicht auf die nächste Epi-Pandemie wartet. Man hat daraus gelernt, dass Länder wie Singapur nach MERS und SARS nicht nachgelassen hatten und tatsächlich alle Regionen im Land ihre Notfallpläne hatten – in Deutschland nur 20 % der Kommunen. Und sie waren gerüstet, auch mit Schutzkleidung, Masken und Isolationsräumen für Infizierte. Im Frühjahr 2020 werden Hausärzte in Deutschland zwar als der erste Schutzwall für Krankenhäuser bezeichnet, sollen aber noch Patienten mit COVID-19 in derem Zuhause ohne Schutzkleidung besuchen. Und noch knapp ein Jahr zuvor mussten sie sich noch anhören, dass niemand sie zwingt, Kassenarzt zu werden.

Im Frühjahr 2020 setzt Markus Söder in jedem Landkreis und jeder kreisfreien Stadt einen „Versorgungsarzt“ mit umfassenden Befugnissen ein. Dieser Versorgungsarzt wird nicht von der KV, sondern vom Landrat oder Bürgermeister bestimmt. Aber hoppla, warum sind denn im Herbst 2020 – rein re-gnostisch gesehen – die Versorgungsärzte denn noch weiter im Amt? Na, wie auch immer.

Im Herbst 2020 haben sich auf jeden Fall die Beratungen der medizinischen Experten bewährt. Die Entscheidung der Bundesregierung, eine in ihren Berufen verbleibende Experten-Kommission aus den Bereichen Forschung, stationäre/ambulante Versorgung und Patienten fest im Gesundheitsministerium zu installieren, wird begrüßt. „Schluss mit politischen Entscheidungen aus dem Bauch heraus“, hatte es Peter Tschentscher, Arzt und Oberbürgermeister in Hamburg, genannt, mitten in der Krise Ende März 2020.

Wir werden dann also irgendwann von Zeiten vor Corona und solchen nach Corona sprechen. Die neue Welt wird die Medizin erreicht haben. Eine Welt, in der Handy-Ortung dabei hilft, Infektionsketten aufzuspüren und zu unterbrechen. Ob das unter Wahrung des Datenschutzes und der Persönlichkeitsrechte passiert? Das konnte ich in meiner Re-gnose leider nicht erkennen. Und ich konnte auch nicht sehen, ob das Notstandsgesetz, das Ärzte zum Einsatz verpflichten kann und einen von unbegründetem Misstrauen geprägten Rückfall in „die alte Welt“ bedeutet, tatsächlich nur für die Dauer der Epidemie gilt. Und ob man in Nach-Corona-Zeiten die Wichtigkeit der Helden-Berufe weiter zu schätzen weiß. An diesen Punkten ist der Lauf der Geschichte wohl noch nicht entschieden. Wir sollten also versuchen, jetzt Einfluss darauf zu nehmen.

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