Primärarztsystem ja oder nein? Wider die Pizza-Service-Mentalität

Im Südwesten der Republik existiert seit mehr als 10 Jahren ein freiwilliges Primärarztsystem, genannt HzV. Diese "alternative Regelversorgung" funktioniere ganz gut, meinen die Initiatoren vom Hausärzteverband, MEDI und der AOK Baden-Württemberg, bestätigt wird das durch Evaluationsstudien. Die HzV könnte somit auch ein Vorbild sein für ein bundesweites Primärarztsystem, das aber nicht verpflichtend, sondern eben freiwillig sein sollte. Doch noch gebe es zu wenige Nachahmer außerhalb Baden-Württembergs (und Bayerns) und viele Krankenkassen täten noch zu wenig, um das zu ändern, beklagte Dr. med. Berthold Dietsche, erster Vorsitzender im Hausärzteverband Baden-Württemberg, die aktuelle Lage. Denn noch viel zu viele Versicherte nördlich des Weißwurst-Äquators erführen von ihren Kassen nicht, dass sie solch einen Hausarztvertrag im Angebot haben.
Ungesteuerter Zugang
Ein Primärarztsystem wäre notwendig, um das nach Meinung einiger Teilnehmer der Podiumsdiskussion drängendste Problem unseres Gesundheitssystems zu lösen: den ungesteuerten Zugang zu Ärzten aller Versorgungsebenen. Mit durchschnittlich 18 Arzt-Patienten-Kontakten pro Jahr sind die Deutschen hier Spitze. Ein Primärarztsystem wie die HzV könne diese Steuerung leisten. So seien in Baden-Württemberg bereits 1,2 Millionen unkontrollierte Facharztbesuche vermieden worden, wie die Evaluation gezeigt habe. Doch im gerade verabschiedeten TSVG werde eine Rationierung der Leistungen nicht einmal ansatzweise angegangen, monierte Dietsche in seiner Eröffnungsrede und meinte: "Vielleicht hätte sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die HzV vorher noch einmal genauer anschauen sollen." Stattdessen sei aber zu befürchten, dass durch das TSVG in Zukunft zusätzliche Arzt-Patienten-Kontakte generiert werden.
Bringt das TSVG mehr Steuerung?
Diese Sicht auf das TSVG wollte Karin Maag, die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, so nicht stehen lassen. Mit den Terminservicestellen (TSS) bringe das Gesetz doch durchaus eine Steuerung ins System, z. B. für den Zugang zu den Kliniken. Die TSS könnten Patienten effizienter eine passende Versorgungsebene zuweisen. Maag verwies zudem darauf, dass im TSVG auch der "Wahltarif HzV" gestärkt werde, weil Patienten, die sich darin einschreiben, zukünftig ein Bonus winke. Ein bundesweites Primärarztsystem nach dem Vorbild der HzV sei zwar im Prinzip eine gute Sache, so Maag, aber erst einmal brauche man dafür mehr Hausärzte, um so etwas zu realisieren.
HzV-Bonus ist eine Luftnummer
Dr. Christopher Hermann, der noch amtierende Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg und einer der Väter der HzV, vermochte dieser Interpretation des TSVG wenig abzugewinnen. Mit der Rund-um-die-Uhr-Ausweitung der TSS und der Vermittlung von Terminen zu allen Ärzten ab dem nächsten Jahr würden die TSS zu einer Art "Pizza-Service" verkommen. "Ich hole mir dann einen Arzttermin, wie ich eine Pizza bestelle", so Hermann. Wenn der Eindruck entstünde, Arzttermine seien für alle jederzeit verfügbar, brauche man sich nicht zu wundern, wenn sich die Zahl der Arzt-Patienten-Kontakte noch weiter erhöhe. Und auch von der im TSVG in Aussicht gestellten Bonus-Ausschüttung an HzV-Versicherte verspricht sich der AOK-Chef wenig. Das sei eine "Luftnummer", solange über die Bonifizierung Leute entscheiden, die die HzV gar nicht wollen. Und damit meinte er seine Kolleginnen und Kollegen bei vielen anderen Krankenkassen, die sich schon bisher gegen die Hausarztverträge gesträubt hätten. "Das sitzen diese Kassen locker aus", so Hermann.
Auch Heike Baehrens, die Pflegebeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion verteidigte das TSVG, denn es werde den Zugang von GKV-Versicherten zu den Fachärzten verbessern und so die Zwei-Klassen-Medizin abbauen. Die Terminservicestellen würden hier eine klare Steuerungsfunktion übernehmen, bei der geprüft wird, ob ein Arztbesuch nötig ist und welcher Arzt benötigt wird. Auch Baehrens findet, dass die Bonifizierung die HzV stärken werde, wenngleich sie die Kritik am bürokratischen Aufwand für berechtigt hält. Aber dass der nicht zu sehr ausufert, darum müsste sich nun eben die ärztliche Selbstverwaltung selbst kümmern. Diese Aussage brachte ihr reichlich Buhrufe aus dem Publikum ein.
Patienten kommen mit jedem Käse zum Arzt
Nicht einverstanden mit all dem, was die Politik da gerade anrichtet, zeigte sich denn auch die niedergelassene Allgemeinärztin Dr. Susanne Bublitz. Für sie findet die ganze Diskussion fernab jeglicher Realität statt. TSS brauche man eigentlich nicht, ihrer Meinung nach könnten Hausärzte die Versorgung gut steuern – wenn man sie denn ließe. Dass sie mit dieser Ansicht nicht allein steht, zeigte der aufbrausende Beifall. Tatsächlich werde es so sein, prophezeit Bublitz, dass über die TSS nur jene einen Arzttermin bekommen werden, die einen wollen, aber nicht jene, die einen brauchen. Letztere bekämen über ihren Hausarzt mit Sicherheit schneller einen Facharzttermin. Und wichtig sei auch, dass Politiker der Bevölkerung nicht ständig suggerieren, dass alles immer und jederzeit verfügbar sei in unserem Gesundheitssystem. Wörtlich: "Sie müssen aufhören, den Patienten zu sagen, dass sie wegen jedem Käse zu uns kommen dürfen!" Hinzu kommen müsse, dass mehr für die Prävention getan und die Gesundheitskompetenz der Menschen gefördert werden müsse.
Das sieht der Vorstandsvorsitzende der KV Baden-Württemberg und Orthopäde Dr. med. Norbert Metke ähnlich. Allein in Baden-Württemberg gebe es 160 Millionen Sprechstundentermine pro Jahr, das reiche. Was aber nicht gehe, sei, dass jeder einfach "dorthin tappt", wo er möchte. Von 18 Millionen Facharztkontakten kämen 12 Millionen ohne Überweisung zustande, beklagt er und fordert ein Mehr an Steuerung durch Hausärzte, damit "unnötige" Patienten nicht weiterhin die Facharztpraxen verstopfen. "Die Fachärzte überleben nur durch eine gute hausärztliche Steuerung", so Metke.
Für ein Primärarztsystem braucht es mehr Hausärzte
Schlussendlich äußerte auch Ulrich Weigeldt, der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbands (DHÄV), seinen Unmut über das TSVG. Der Aufwand für die Terminservicestellen sei gewaltig, aber da frage niemand danach, ob das zu Einsparungen führt, wie das die HzV immer wieder belegen müsse. Das sei ein Missverhältnis, das man nicht verstehen könne. Zumindest einen positiven Aspekt konnte der Hausärzte-Chef dann aber doch noch im TSVG erkennen: "Es wurde noch nie so viel über die HzV gesprochen wie jetzt."
Fazit: Es bleibt abzuwarten, wie sich das TSVG in den nächsten Monaten und Jahren auswirkt. Einem Primärarztsystem, vermutlich eher einem freiwilligen, zeigten sich die Parteipolitiker nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Dass es dafür aber mehr Hausärzte braucht, ist wohl auch jedem klar.
Autor:
Dr. Ingolf Dürr
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (7) Seite 40-42
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.