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Ärzteprotest Wir-Gefühl und Solidarität bei Kundgebung

Gesundheitspolitik Autor: Isabel Aulehla

Die Teilnehmenden haben keine Mühen gescheut und Plakate gestaltet. Die Teilnehmenden haben keine Mühen gescheut und Plakate gestaltet. © MT
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Inflation und Personalmangel belasten die Praxen enorm. Statt zu helfen, diskutierte die Politik die Streichung der Neupatientenregelung – obwohl das Defizit der GKV vielleicht deutlich niedriger ist als angenommen. Der KV Rheinland-Pfalz wurde es zu bunt.

An einem sonnigen Mittwochmorgen tummeln sich vor einem Kongresszentrum im rheinhessischen Ingelheim Ärzte und MFA mit teils kunstvollen Plakaten. Die KV Rheinland-Pfalz hat zum Protest gerufen – gegen die geringe Steigerung des Orientierungswerts von nur 2 % und die Streichung der Neupatientenregelung. Die Menge trägt schwarze Warnwesten, gemäß dem Veranstaltungsmotto „Wir sehen schwarz für die Zukunft unserer Praxen“.

Der Ärger über die politische Missachtung der Niedergelassenen hat manchen kreativ gemacht. So fällt ein Marionettenspieler in der Masse auf: Der Kinder- und Jugendarzt Christian ­Wantzen trägt eine Arztpuppe an Fäden vor sich her, ein Schild an seiner Verkleidung weist ihn als „Politik und Krankenkasse“ aus. Es stört ihn, dass bei der Veranstaltung kein einziger Vertreter dieser Gruppen anwesend ist. „Sie zeigen keine Wertschätzung für  unsere Standpunkte.“

Neben ihm pflichtet ein Hausarzt bei. Er fühle sich ein wenig an den Ärzteprotest von 2009 erinnert, meint er. Die Plakate von damals seien heute genauso treffend. Er ist froh, für seine Praxis einen Nachfolger gefunden zu haben – viele Kollegen würden ihre Praxen nicht mal verschenkt bekommen. Zu unattraktiv sei die Selbstständigkeit für junge Mediziner.

„Hey, Kalle, warum hast du nicht abgedankt?“

Immer wieder erschallt Gesang in der Menge. Die Internistin Dr. ­Birgit Jäger aus Nierstein singt mit ihrem Team ein ironisches Lied über Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, das sie selbst geschrieben hat. „Hey, Kalle, warum hast du nicht abgedankt, merkst du nicht, dass der Laden wankt“, heißt es im Refrain. Zur Einleitung des offiziellen Teils der Veranstaltung wird sie damit auf die Bühne ­gebeten.

Der Saal ist voll, rund 750 Personen drängen sich darin. Die KV-Offiziellen äußern sich erleichtert. Man habe noch befürchtet, man müsste leere Plätze kaschieren, um für die Presse einen guten Eindruck zu machen, scherzt der Vorsitzende Dr. Peter Heinz. In ihren Statements empören sich die Vorstandsmitglieder dann ausgiebig über Prof. Karl Lauterbach und den GKV-Spitzenverband – begleitet von zustimmendem Gejohle, Buhrufen und vereinzelten Pfiffen.

Mediziner als moralisch erpresste Berufsgruppe

Lange Zeit sei die Ärzteschaft an einem „ethischen Nasenring“ durch die Manege gezogen worden, so Dr. Heinz: als besserverdienende Berufsgruppe, die Kürzungen verkraftet. Doch dieser Ring reiße nun. Angesichts der Inflation von rund 10 % sei es unverschämt, dass die Krankenkassen bei den Honorarverhandlungen zum sechsten Mal in Folge eine Nullrunde angeboten hätten und dies noch als entgegenkommend verkauften – weil in ihren Augen eine Honorarsenkung fällig wäre. Die gemeinsame Selbstverwaltung habe sich zur „alleinigen Verwaltungsherrschaft der Kassen“ entwickelt. Auch Patienten müssten merken, dass sie mithilfe ihrer Krankenkasse „die Zeche prellen“. Es sei davon auszugehen, dass steigende Kosten für Energie und Personal einige Praxen in die Knie zwingen, meint der KV-Vorsitzende. Er rechne mit 200–400 Insolvenzen. Diese „kalte Strukturreform“ werde von der GKV in Kauf genommen. Die zerstörten ambulanten Strukturen danach wieder aufzubauen, werde hohe Kosten verursachen.

Auch die Substitution ärztlicher Leistungen durch Apotheken und Gesundheitskioske erhitzt die Gemüter. Von „Gesundheitsbüdchen, wo es neben Bockwurst und Bier noch eine medizinische Betreuung durch Nicht-Ärztinnen und -Ärzte gibt“, spricht Dr. Karheinz Kurfeß als stellvertretender Vorsitzender der Vertreterversammlung der KV. Es scheine eine perfide Strategie zu geben, Geld aus Praxen fernzuhalten und dafür in anderen Berufsgruppen zu verteilen, ergänzt Vorstandsmitglied Peter Staub. Immer wieder betonen die Redner, man dürfe sich nicht spalten lassen.

Der stellvertretende KV-Vorsitzende Dr. Andreas Bartels warnt Prof. Lauterbach davor, zum „Totengräber der ambulanten Versorgung“ zu werden. Auch einen Seitenhieb in Richtung FDP gönnt er sich: Die Wahl in Niedersachsen wäre für die Partei anders ausgegangen, wenn sie sich mehr um die Interessen der Ärzte gekümmert hätte. Die Politik müsse insbesondere dafür sorgen, dass Praxen ihr Personal angemessen bezahlen können.

Die Anwesenden wissen die Leis­tung ihrer MFA jedenfalls zu schätzen: Als die KV-Vorsitzenden den Fachkräften für ihre unermüdliche Arbeit und die Unterstützung beim Protest danken, gibt es Standing Ovations. Diese Wertschätzung finanziell auszudrücken, wird für die Niedergelassenen allerdings immer schwieriger. Im Saal kehrt konzentrierte Stille ein, als Dr. Dominik von Stillfried, Vorsitzender des Instituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), die wirtschaftliche Situation der Praxen anhand von Daten beschreibt. Nur erstauntes Gemurmel ist ab und an noch zu hören.

Kaufkraftverlust errechnen

Auch in Bremen sorgen sich viele Niedergelassene um die wirtschaftliche Situation ihrer Praxis. Um das Thema noch greifbarer zu machen, hat die KV der Hansestadt einen Kaufkraftverlust-Rechner entwickelt. Praxisinhaber können damit selbst ermitteln, wie viel ihr Bruttohonorar von 2019 in den Jahren  2023 und 2024 noch wert sein wird.
 

Als wichtigsten Kostentreiber identifiziert der Experte die Personalkosten. Von 2017 bis 2020 seien diese um rund 19 % gestiegen. Gleichzeitig hätten fast 70 % der Niedergelassenen Schwierigkeiten, nicht-ärztliches Personal zu finden. Von Juli 2019 bis Juli 2022 wuchs die Zahl der offenen MFA-Stellen um 47 %. Jede siebte Praxis habe aufgrund von Personalengpässen bereits ihren Leistungsumfang reduzieren müssen. Erschwerend komme hinzu, dass Fachkräfte zu Krankenhäusern abwandern, da diese sich eine höhere Bezahlung erlauben könnten.

Grund für die bessere finanzielle Situation der Kliniken sei unter anderem eine „systematische Bevorzugung“ in der Vergütung. So würden bei ihren jährlichen Budgetverhandlungen faktische Leistungsmengen berücksichtigt, im ambulanten Bereich würden sie nur anhand grober Maßstäbe wie der Morbiditätsentwicklung approximiert.

Für die Energiekosten rechnet der Zi-Vorsitzende für dieses Jahr mit einer Verdreifachung der Kosten von 2021. Nächstes Jahr drohe gar eine Verfünffachung, 2024 könnten die Kosten dann wieder auf das Zweieinhalbfache des Werts von 2021 fallen. Allerdings sei noch unklar, wie sich die Gaspreisbremse auswirken werde, schränkt der Experte ein. Eine Strompreisbremse gebe es jedoch ohnehin nicht.

Insgesamt steigen die Ausgaben der Niedergelassenen stärker als ihre Einnahmen (Anstieg von 16 % vs. 13 %), resümiert Dr. von Stillfried. Die Jahresüberschüsse würden gering ausfallen und seien oft nur durch Effizienzsteigerungen in den Praxen zu erreichen. 

Klares Stopp-Signal in Richtung der Politik

Das GKV-Defizit von angeblich 17 Milliarden Euro, mit dem die Sparmaßnahmen auf Kosten der Ärzteschaft politisch begründet werden, hält er für eine „Chimäre“. Die Faktoren, anhand derer die Summe berechnet wurde, hätten sich anders entwickelt als angenommen. Beispielsweise sei man davon ausgegangen, dass die Höhe der beitragspflichtigen Einkommen nur um 2,4 % steigen würde – tatsächlich steigen sie aber um 4,6 %. Der Zi-Vorsitzende bezieht sich auf einen Monatsbericht der Bundesbank für September, in dem diese zur gleichen Einschätzung gelangt.  

Nach zweieinhalb Stunden und weiteren Vorträgen endet die Veranstaltung, die offiziell kein Streik sein darf. Um die Teilnehmer noch einmal als Gruppe zu mobilisieren, bitten die KV-Offiziellen um eine abschließende Geste: Die Anwesenden stehen auf und zeigen ihre Handfläche als Stopp-Symbol – in Richtung der Politik, versteht sich.

Medical-Tribune-Bericht

Für die Zukunft ihrer Praxen sehen mache Protestteilnehmer auch deshalb schwarz, weil das Licht insolvenzbedingt bald aus bleibt, meinen sie. Für die Zukunft ihrer Praxen sehen mache Protestteilnehmer auch deshalb schwarz, weil das Licht insolvenzbedingt bald aus bleibt, meinen sie. © KV Rheinland-Pfalz
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