Realitätsverlust im digitalen Zeitalter Zwischen Wahrheit und Wahnsinn

Kolumnen Autor: Dr. Pablo Hagemeyer

In der Praxiskolumne macht sich Dr. Pablo Hagemeyer Gedanken über aktuelle Formen des Wahnsinns und was ihnen zugrunde liegen könnte. In der Praxiskolumne macht sich Dr. Pablo Hagemeyer Gedanken über aktuelle Formen des Wahnsinns und was ihnen zugrunde liegen könnte. © peopleimages.com - stock.adobe.com

Was treibt den modernen Wahnsinn an – einseitiges Denken, die Angst vor narzisstischer Kränkung oder digitale Echokammern? Unser Kolumnist erforscht die psychischen Dynamiken hinter einem aktuellen Phänomen.

Heute begegnet uns der Begriff „Wahnsinn“ häufig – und selten war es so aktuell, über seine Bedeutung nachzudenken. Denn die Unterscheidung zwischen Meinung, Überzeugung und Realitätsverlust wird schwieriger in einer Zeit, in der digitale Echokammern, affektgetriebene Narrative und gezielte Desinformation das Denken durchdringen.

Wir leben in einem Zeitalter multipler Wirklichkeiten. Zwischen Algorithmen, Angst und Allmachtsfantasien entsteht eine psychodynamisch aufgeladene Gemengelage. C. G. Jung meinte: Einseitigkeit bringt das Animalische im Menschen hervor. Der umstrittene Analytiker ist heute aktueller denn je. Denn er sah, wie sich das Unbewusste – wenn es nicht gespiegelt wird – in kollektive Extreme entlädt. Wer nur noch eindimensional denkt, läuft Gefahr, sich in der eigenen Ideologie zu verlieren, bis hinein in zerstörerische Affekte.

Auch kognitionspsychologisch ist das Phänomen gut beschreibbar: „Core Beliefs“ sind mentale Grundmuster, die unsere Realität strukturieren. Werden sie jedoch nicht mehr überprüft, sondern nur noch affektiv aufgeladen und sozial verstärkt, können sich daraus abgeschottete Realitätsräume bilden. Wahnähnliche Denkformen entstehen durch schleichende Selbstvergewisserung. Die Meinung wird zur Wahrheit, Zweifel gelten als Angriff, Fakten werden zur Provokation.

Was ist noch Kritik – und was schon Ideologie? Wenn auf deutschen Straßen antisemitische Parolen gerufen werden und Menschen wegen ihres Davidsterns angegriffen werden, sollten wir innehalten. Wenn Michel Friedman aus Sicherheitsbedenken nicht mehr auftreten darf, wenn in Teilen der Gesellschaft der Slogan „Free Palestine from Hamas“ nicht mehr sagbar ist, ohne moralisch verfolgt zu werden: Dann verändert sich etwas. Nicht zum Guten.

Der Wahn denkt in sich stimmig, aber nicht mehr anschlussfähig. Was von außen paradox erscheint, ist von innen vollkommen logisch. Das macht ihn so schwer zu erreichen.
Als Psychiater prüfen wir deshalb nicht nur den Logos, also die logische Konsistenz einer Aussage, sondern auch die libidinöse Energie, die darin gebunden ist: Was wird hier mit aller Kraft verteidigt? Welche narzisstische Kränkung wird vermieden? Welche Schuld abgewehrt?

Ich verwende gerne ein Akronym, das Patientinnen und Patienten – aber auch mir selbst – Orientierung gibt, wenn es um Denkverengungen oder paranoide Tendenzen geht:

  • Wahrheitsverlust: Der Bezug zur gemeinsam überprüfbaren Realität geht verloren. Aussagen werden nicht mehr reflektiert, sondern verkündet.
  • Affektladung: Die Überzeugung ist stark emotional aufgeladen, meist mit Angst, Wut, Entwertung oder Euphorie.
  • Hochverfestigung: Die Idee wird immunisiert gegen Zweifel. Es gibt keinen argumentativen Rückzugsraum mehr.
  • Narzisstischer Selbstbezug: Die Position dient der Stabilisierung des Selbstwerts; Kritik gilt als Angriff auf die eigene Integrität.

Natürlich bedeutet nicht jede schräge Idee gleich Wahnsinn. Zwischen ungewöhnlicher Meinung und floridem Wahn liegt ein Spektrum. Um zu prüfen, wo man liegt, hilft eine sokratische Haltung: „Ist es so?“ Und: „Wenn es nicht so wäre – wie würde es mir dann gehen?“ Diese Fragen lösen Denkverengungen auf und lassen wieder Ambiguität zu.

In der Therapie gilt: Wahn ist nicht nur pathologisch, sondern auch Ausdruck einer Überforderung, eines inneren Ungleichgewichts, einer fragmentierten Realität. Jung erinnerte uns daran, dass auch das Extreme Teil des Ganzen ist. Und dass Heilung bedeuten kann, das Destruktive in uns zu integrieren.

Denn Wahnsinn beginnt dort, wo wir glauben, fehlerlos sein zu müssen. Es ist hingegen zutiefst menschlich, sich zu irren – und klug, sich dabei (auch psychiatrisch) begleiten zu lassen.