Neuronale Fehlverschaltung Funktionelle neurologische Störungen: Softwarefehler im Gehirn
Die Video-EEG- Aufzeichnung ist zentral, um zwischen epileptischen und funktionellen Anfällen differenzieren zu können.
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Obwohl sie zu den häufigsten Krankheitsbildern in der Neurologie zählen, werden funktionelle Störungen immer wieder verkannt oder als „eingebildete“ Beschwerden abgestempelt. Die richtige Kommunikation mit den Betroffenen ist oft der Schlüssel zur erfolgreichen Therapie.
Schätzungen zufolge leiden rund 80 bis 140 von 100.000 Menschen unter einer funktionellen neurologischen Störung. Die Krankheit verläuft in vielen Fällen chronisch und verursacht teils hohe Kosten für das Gesundheitssystem. Die Betroffenen haben oft einen langen Leidensweg hinter sich, bevor sie die richtige Diagnose erhalten. Ihr Risiko für bleibende Behinderungen und Mortalität ist erhöht, schreiben Prof. Dr. Barbara Dworetzky und ihr Kollege Prof. Dr. Gaston Baslet von der Harvard Medical School. Das Autorenduo hat die neuesten Erkenntnisse und Empfehlungen zum Management der Erkrankung zusammengetragen.
Ursächlich für funktionelle Symptome ist eine gestörte Informationsverarbeitung im Gehirn. Dabei scheinen insbesondere neuronale Netzwerke involviert zu sein, die mit der Emotionsverarbeitung, der motorischen Kontrolle und der Interozeption zusammenhängen. Auch Netzwerke, die am Gefühl von Agency (Handlungskontrolle) und an Vorhersageprozessen beteiligt sind, könnten eine Rolle spielen.
Von Anfällen bis zu kognitiven Schwierigkeiten
Es gibt verschiedene Subtypen von funktionellen neurologischen Störungen, deren Symptome sich auch überschneiden können:
- Funktionelle Anfälle, die Ähnlichkeit zu epileptischen Anfällen haben, jedoch ohne die charakteristischen EEG-Korrelate
- Funktionelle motorische Störungen (einschließlich Tremor, Dystonie, Myoklonus, Schwäche und anderer abnormaler Bewegungsmuster), die nicht durch andere neurologische Erkrankungen erklärbar sind
- Persistierender postural-perzeptiver Schwindel sowie Gleichgewichtsstörungen, die nicht auf vestibuläre oder neurologische Erkrankungen zurückgehen
- Funktionelle kognitive Störung mit Symptomen wie Gedächtnisproblemen und Konzentrationsschwierigkeiten ohne erkennbare organische Ursache
Die Diagnose einer funktionellen Störung sollte bei fast allen Patientinnen und Patienten mit ungeklärten neurologischen Symptomen in Betracht gezogen werden, empfehlen Prof. Dworetzky und Prof. Baslet. Vor allem bei jungen Menschen, die unter einem plötzlichen Gedächtnisverlust oder Einbußen in der Kognition leiden, ist eine funktionelle kognitive Störung als alternative Diagnose zu einer früh beginnenden Demenzerkrankung zu erwägen.
Eine ausführliche Anamnese ist zentral, insbesondere wenn der Verdacht auf eine funktionelle Ursache besteht. Typische Trigger sind etwa Kopfverletzungen ohne bleibende strukturelle Läsionen oder psychische Traumata (z. B. Missbrauch, Gewalt, schwere Verlusterlebnisse). In vielen Fällen findet sich jedoch kein auslösendes Ereignis. Auch andere psychiatrische Komorbiditäten wie Angststörungen und begleitende Schlafstörungen müssen abgeklärt werden. Der Verdacht auf eine funktionelle Genese erhärtet sich, wenn spezifische Positivzeichen vorliegen (siehe Tabelle).
Positivzeichen bei funktionellen neurologischen Störungen
| Positivzeichen bei funktionellen neurologischen Störungen | |
|---|---|
| Motorische Störungen | |
| Hoover-Zeichen | Einseitige Beinschwäche; beim Anheben des gesunden Beins kehrt die Kraft im schwachen Bein zurück |
| Abduktoren-Zeichen | Einseitige Beinschwäche; Abduktionsschwäche verschwindet bei kontralateraler Abduktion gegen Widerstand |
| Give-way-Schwäche | Unplausibles Nachgeben der Extremität ohne Schmerzen, oft abrupt, trotz erhaltener Muskelkraft (schmerzbedingtes Nachgeben ausschließen) |
| „Dragging leg“ | Das schwache Bein wird passiv in Außenrotation nachgezogen (statt aktiver Halbkreisbewegung wie bei Zirkumduktion) |
| Tremor-Entraining | Der Tremor verschwindet, pausiert oder ändert Frequenz/Amplitude, wenn kontralateral eine willkürliche Rhythmik vorgegeben wird |
| „Drift without pronation“ | Beim Armhalteversuch sinkt der Arm ab, aber ohne typische Pronation (wie bei Schlaganfall) |
| Funktionelle Anfälle | |
| Iktaler Augenschluss | Augen geschlossen während des Anfalls, bei erzwungenem Öffnen häufig abwärtsgerichteter Blick; Blinzeln nach Wimpernreizung |
| Iktales Weinen | Wimmern oder Weinen während des Anfalls (nicht postiktal) |
| Beckenbewegungen | Rhythmische Beckenstöße – Frontalllappenepilepsie ausschließen bei stereotypem Muster, kurzer Dauer oder Auftreten im Schlaf |
| Kopf- oder Körperbewegungen von Seite zu Seite | Häufig bei funktionellen Anfällen, sehr untypisch für epileptische |
| Asynchrone Extremitätenbewegungen | Arme/Beine bewegen sich nicht rhythmisch-synchron (anders als bei generalisierten epileptischen Anfällen) |
| Fluktuierender oder langanhaltender Verlauf | Dauer und Intensität wechseln während des Anfalls, Dauer oft länger als typische epileptische Anfälle |
Obwohl die funktionelle Störung in der Regel eine neurologische oder neuropsychiatrische Diagnose ist, erfolgt die Behandlung am besten in einem multidisziplinären Team. Je nach Fall sollten z. B. Kolleginnen und Kollegen aus der Psychotherapie, Physiotherapie, Ergotherapie, Sprachtherapie und Rehabilitation hinzugezogen werden.
Für den Behandlungserfolg ist es von besonderer Bedeutung, dass die Betroffenen ihre Krankheit verstehen und akzeptieren. Fördern lässt sich dies durch empathische Gespräche, in denen sich die Patientin oder der Patient ernst genommen fühlt. Der Hinweis darauf, dass die Störung durch eine Fehlkommunikation zwischen verschiedenen Hirnarealen entsteht (statt „eingebildet“ zu sein) und ein häufiges Krankheitsbild in der Neurologie darstellt, kann hilfreich sein.
Bei fehlender Veränderungsbereitschaft kann die „motivierende Gesprächsführung“ zum Einsatz kommen. Darin betont man etwa die Eigenverantwortung der Betroffenen und stärkt ihre Selbstwirksamkeitserwartung. Auch sollten Diskrepanzen zwischen den selbst gesteckten Zielen der Erkrankten und ihrem aktuellen Verhalten zur Sprache kommen. In einer randomisierten kontrollierten Studie erhöhte sich dadurch die Therapietreue im Vergleich zur Standardkommunikation, Anfallssymptomatik und Lebensqualität der Betroffenen verbesserten sich signifikant.
Neue Therapieansätze werden derzeit untersucht
Bislang gibt es keine medikamentösen Therapieoptionen, um die Symptome einer funktionellen neurologischen Störung zu lindern. Aktuell werden verschiedene Behandlungsoptionen untersucht, etwa eine nichtinvasive Hirnstimulation, Virtual-Reality-basierte Therapien und auch Psychedelika.
Quelle: Dworetzky BA, Baslet G. Neurotherapeutics 2025; 22: e00612; doi: 10.1016/j.neurot.2025.e00612