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Hoch dosiertes Vitamin D gefährdet nicht nur MS-Patienten

Autor: Friederike Klein

Wie viel Vitamin D ist zu viel des Guten? Wie viel Vitamin D ist zu viel des Guten? © iStock/simon2579
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Hoch dosiertes Vitamin D gegen Multiple Sklerose? Manche MS-Kranke schwören drauf und schlucken täglich 100.000 Einheiten. Dabei orientieren sie sich an den Empfehlungen eines brasilianischen Neurologen. Ein Fall aus Zürich mahnt allerdings zur Vorsicht.

Wegen einer symptomatischen Hyperkalzämie und steigenden Kreatinin­werten wurde ein 39-Jähriger von seinem Hausarzt ins Universitätsspital Zürich eingewiesen. Zuvor war der Versuch, die Werte durch verstärkte Flüssigkeitszufuhr, Trinken von Bouillon sowie durch Schleifendiuretika zu bessern, gescheitert.

Vitamin-D-Resistenz soll überwunden werden

Wegen seiner primär progredienten Multiplen Sklerose (PPMS) nahm der Patient schon seit mehreren Monaten Vitamin D in einer Dosis von 100.000 IU/d ein. Betreut wurde er dabei von einem deutschen Arzt, der nach dem sogenannten Coimbra-Protokoll behandelte. Dessen Namensgeber, ein brasilianischer Neurologe, geht von der Annahme aus, dass Autoimmunerkrankungen wie die MS mit einer genetisch bedingten Vitamin-D-Resistenz einhergehen und dadurch der immunmodulatorische Effekt des Vitamins vermindert wird. Durch die Zufuhr sehr hoher Vitamin-D-Dosen soll man die Resistenz überwinden und die Krankheit bessern können. Als Marker der Vitamin-D-Resistenz gilt das Parathormon, das im Verlauf der Behandlung wiederholt gemessen wird. Eine kalziumarme Diät und hohe Trinkmengen von mindestens 2,5 l/d sollen Nebenwirkungen vermindern.

Alles easy aus Patientensicht

Mancher MS-Patient bewertet die Ultrahochdosistherapie mit Vitamin D als positiv. So berichtete der Schweizer Patient, die Behandlung habe seine muskulären Symptome gebessert, er habe besser gehen und sein Fitnesstraining regelmäßig durchführen können. Über Social Media habe er erfahren, dass andere MS-Patienten keine schwerwiegenden Nebenwirkungen entwickelt hätten. Außerdem: Auch die zugelassenen PPMS-Therapie mit Ocelizumab sei nicht frei von Nebenwirkungen.

Wie Dr. Nina Lutz und Kollegen von der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene des Universitätsspitals Zürich berichten, klagte der Patient bei der stationären Aufnahme über Polyurie von ca 5 l/d, zunehmende Müdigkeit mit erhöhtem Schlafbedarf und leichte Obstipation. Bei der klinischen Untersuchung fiel MS-bedingt ein spastisch ataktisches Gangbild bei beinbetonter Tetraparese auf.

Sukzessive Freisetzung aus dem Fettgewebe

Als Träger des MEN-1-Gens befand sich der Patient in regelmäßiger endokrinologischer Kontrolle, doch außer einem leicht erhöhten Parat­hormon waren bislang keine Veränderungen aufgefallen. Aktuell lag der albuminkorrigierte Kalziumwert jedoch bei 12 mg/dl und damit über dem Normbereich (8,4–10,2 mg/dl). Das Kreatinin erreichte 2 mg/dl (nach 3 mg/dl beim Hausarzt). Der Spiegel für 25-OH-Vitamin-D war mit 1742 nmol/l im toxischen Bereich. Als normal gelten Werte bis 125 nmol/l bzw. 50 µg/l, schreiben die Kollegen aus Winterthur. Das Parathormon wurde mit 96 ng/l (Norm 15–68 ng/l) gemessen.

Zeichen der akuten Vitamin-D-Intoxikation

Die Symptome der akuten Intoxikation mit Vitamin D haben als gemeinsame Ursache die Hyperkalz­ämie. Unter anderem kommt es zu:
  • Verwirrung
  • Polyurie, Polydipsie
  • Appetitlosigkeit
  • Verstopfung
  • Muskelschwäche
  • Herzrhythmusstörung
  • Niereninsuffizienz

Aufgrund ihrer Befunde stellten sie die folgenden Diagnosen:
  • Vitamin-D-Intoxikation
  • konsekutive Hyperkalzämie
  • Dehydratation im Rahmen des durch die Hyperkalzämie induzierten Diabetes insipidus renalis
  • akute Niereninsuffizienz
  • leichter primärer Hyperparathyreo­idismus durch MEN1-Mutation
Unter der Rehydrierung mit täglich zwei Litern isotonischer Kochsalzlösung i.v. und zusätzlich kalziumarmem Wasser oral sowie der Gabe von Calcitonin und Zolendronat normalisierten sich die Werte für Kalzium und Kreatinin rasch. Innerhalb von sechs Wochen ging auch die eGFR zurück in den Normbereich. Allerdings stieg nach der Entlassung aus der Klinik das Kalzium erneut an. Zu erklären ist dies mit der sukzessiven Freisetzung von Vit­amin D aus dem Fettgewebe. Dort wird es angereichert, wenn bei sehr hoher Zufuhr die Leber als Speicherorgan nicht mehr ausreicht, erläutern die Autoren.

Coimbra-Protokoll ohne nachgewiesenen Nutzen

Sie empfehlen, MS-Kranken und anderen Patienten mit Autoimmunkrankheiten von der Ultra-Hochdosistherapie mit Vitamin D abzuraten. Zum einen gebe es keine Evidenz für deren Nutzen, zum anderen drohe die Gefahr einer akuten, aber auch chronischen Niereninsuffizienz. Entscheiden sich Patienten dennoch für diese Therapie, sollten die Kalziumspiegel in Serum und Urin regelmäßig kontrolliert werden. Wichtig ist auch die Aufklärung über Symptome der Hyperkalzämie wie Polyurie, Durst, Müdigkeit und Obstipation, damit die Patienten gegebenenfalls frühzeitig den Arzt aufsuchen.

Quelle: Lutz N et al. Swiss Med Forum 2020; 20: 230-233; DOI: smf.2020.08365