Unterwanderte Wissenschaft Wie gefälschte Studien die Forschung bedrohen

Autor: Nina Arndt

Fälschungsagenturen lassen sich ganze Arbeiten oder einzelne Autorenpositionen gut bezahlen. Fälschungsagenturen lassen sich ganze Arbeiten oder einzelne Autorenpositionen gut bezahlen. © Andreas Prott – stock.adobe.com

Die Zahl minderwertiger und gefälschter Studien nimmt stetig zu. Mehrere Hunderttausend manipulierter Arbeiten werden jährlich von Fälschungsagenturen produziert und dienen dann als Grundlage für seriöse Forschung und neue Therapieansätze. Wie stark ist die deutsche Wissenschaft betroffen?

Der Neurowissenschaftler Eliezer Masliah galt aufgrund seiner vielzitierten Arbeiten als führende Persönlichkeit in der Parkinson- und Alzheimerforschung. Seine Studien dienten als Grundlage für die Entwicklung neuer Medikamente, die an Menschen getestet wurden. Doch 2024 schied er als Direktor der Abteilung für Neurowissenschaften am National Institute on Aging in Bethesda aus – 132 seiner Veröffentlichungen standen unter Fälschungsverdacht.

Eliezer Masliah ist kein Einzelfall: 2023 trat der Präsident der Stanford University, Marc Tessier-Lavigne, zurück, nachdem bekannt wurde, dass Mitarbeitende seines Labors Bilder und Daten gefälscht hatten. Der französische Neurowissenschaftler Sylvain Lesné soll in mehreren Studien Abbildungen manipuliert und so Kolleginnen und Kollegen aus der Alzheimerforschung über 16 Jahre lang getäuscht haben. Auch in Deutschland gibt es Fälle: Den Rekord für die meisten zurückgezogenen fragwürdigen Publikationen hält laut der Datenbank Retraction Watch der deutsche Anästhesist Joachim Boldt. 

Die genannten Forscher stehen exemplarisch für ein Problem, das die moderne Wissenschaft prägt: eine Reputationsökonomie, geleitet vom Prinzip „publish or perish“ (dt.: veröffentliche oder verschwinde). Karrieren hängen heute primär von quantitativen Metriken ab wie dem Impact-Faktor, Drittmittelvolumen und dem Hirsch-Index, die als Surrogate für Qualität und Innovation dienen, erklärt Prof. Dr. Ulrich Dirnagl, Gründungsdirektor vom QUEST* Center for Transforming Biomedical Research an der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Aus dem Publikationsdruck ist ein Markt aus Paper Mills und Raubjournalen erwachsen. Paper Mills (dt.: Papiermühlen) arbeiten meist unter dem Deckmantel von Editing- oder Ghostwriting-Diensten. Sie generieren Studien auf Basis erfundener, kopierter oder manipulierter Daten und Abbildungen. KI eröffnet dabei völlig neue Möglichkeiten. Um das zu verdeutlichen, produzierte der KI-Experte Jan Eggers vom Hessischen Rundfunk innerhalb weniger Stunden eine komplette Arbeit über die Lebensweise des Chupacabra, eines lateinamerikanischen Fabelwesens. 

Die Fälschungsagenturen produzieren wie am Fließband

Prof. Dr. Bernhard Sabel von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg bezeichnet die Vorgehensweise der Fälschungsagenturen in seinem Buch „Fake-Mafia in der Wissenschaft“ als „Fließbandproduktion“. Die Arbeiten oder einzelne Autorenpositionen werden dann an Studierende und Forschende verkauft. Manche Fälschungsagenturen übernehmen zudem die Einreichung bei Journalen und manipulieren den Review-Prozess – etwa durch empfohlene Gutachterinnen und Gutachter, deren E-Mail-Adressen jedoch die Paper Mills kontrollieren.

In einer Studie berechneten Prof. Sabel und sein Team das Ausmaß der Manipulation. Dazu analysierten sie über 17.000 Publikationen. Sie schätzten, dass sich der Anteil verdächtiger biomedizinischer Arbeiten auf 16,3 % beläuft und die Rate tatsächlicher Fälschung auf mindestens 5,8 %. Bei einer Publikationsleistung von 1,86 Millionen Veröffentlichungen pro Jahr (auf Basis von Scimago für das Jahr 2023) entspricht das etwa 107.800 gefälschten biomedizinischen Artikeln. „Wenn man das auf alle Wissenschaften extrapoliert, würden wir konservativ geschätzt weltweit etwa bei mindestens 300.000 manipulierten Arbeiten pro Jahr liegen“, sagt Prof. Sabel.

Verlage nennen deutlich niedrigere Zahlen – sie beziehen sich allerdings nur auf bereits zurückgezogene Publikationen. 2023 lag die Zahl dieser Retractions weltweit bei rund 10.000, was einer Quote von 0,2 % entspricht. Darin enthalten sind jedoch keine Studien, die noch nicht als manipuliert erkannt wurden oder deren Rückzug erwogen wird.

Die meisten der von Prof. Sabel und seinem Team als verdächtig eingestuften Untersuchungen stammten aus China und Indien mit einem globalen Anteil von 42,3 % bzw. 33,0 %. Für die Vereinigten Staaten und Deutschland lag der Anteil unter 1 %. „Im europäischen und amerikanischen Raum haben wir kein wesentliches Problem mit der Nutzung von Paper Mills“, betont der Experte. Dennoch gebe es Ausreißer wie den Präsidenten der Stanford University. „Das Problem ist allerdings, dass wir die Arbeiten aus anderen Ländern lesen, zitieren und möglicherweise darauf Experimente aufbauen“, erklärt Prof. Sabel.

Bereits veröffentlichte Arbeiten können Forschende auf der Plattform PubPeer diskutieren und kritisieren. Prof. Dirnagl beschreibt das Forum in einer seiner Kolumnen im Laborjournal als derzeit bestes Medium, das die Korrektur der wissenschaftlichen Literatur erlaube. Allerdings findet auf PubPeer geäußerte Kritik oft erst nach langer Zeit Gehör.

Eine Retraction ist nicht nur unangenehm, sondern bedeutet auch Arbeit für Editorinnen und Editoren, die viele von ihnen scheuen, erläutert Prof. Dirnagl. Sie müssen die korrespondierenden Autorinnen und Autoren sowie die Institution kontaktieren, gegebenenfalls mehrmals – ein Prozess, der sich durchaus über Jahre hinziehen kann. Bekommt man keine Rückmeldung und entscheidet sich für eine Retraction, besteht die Gefahr, von den Betroffenen verklagt zu werden.

Doch was sagt das über den Review-Prozess aus, wenn manipulierte Arbeiten durch das Verfahren sickern? Gefälschte Publikationen sind mittlerweile so gut, dass Reviewerinnen und Reviewer diese in der Regel nicht als solche erkennen würden, sagt Prof. Sabel. Zudem sei das Renommee einer Zeitschrift keine Garantie für Qualität. Prof. Dirnagl, der sich selbst als „großer Freund des Peer-Reviews“ bezeichnet, erklärt: „Aufgrund des wahnsinnigen Anwachsens des Volumens und der Komplexität kann der Peer-Review als Qualitätskontrolle nicht mehr Schritt halten.“

Gutachterinnen und Gutachter müssen drei bis vier Arbeiten pro Woche bewerten, ohne dafür eine Schulung erhalten zu haben oder vergütet zu werden. Sie stehen vor der Entscheidung: „Arbeite ich jetzt an meinen eigenen Projekten oder die Hälfte der Woche an Korrekturen für andere?“

Zahl an Publikationen hat sich in jüngerer Zeit verfünffacht

Tatsächlich ist die Zahl der Veröffentlichungen in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen. Zwischen 1996 und 2023 hat sie sich weltweit fast verfünffacht auf fünf Millionen. Während sich die Arbeiten in den USA und Deutschland lediglich verdoppelten, haben sie sich in China um das 32-Fache erhöht. Absolut gesehen hat China die Vereinigten Staaten 2019 überholt und publiziert weltweit die meisten Paper. Es werde zwar immer mehr publiziert, aber nicht mehr Wissen und Erkenntnis geschaffen, sondern eher weniger, so Prof. Sabel. Die Kombination aus Publikationsdruck und überlasteten Reviewerinnen und Reviewern schafft ideale Bedingungen für Betrug. Wie systematisch die Fälschungsagenturen mittlerweile vorgehen, erlebte der Experte bereits selbst (s. Kasten).

So läuft der Erstkontakt mit einer Paper Mill

Als Herausgeber einer internationalen neurowissenschaftlichen Zeitschrift wurde Prof. Sabel eines Tages per E-Mail von einer Paper Mill kontaktiert, die eine Zusammenarbeit vorschlug. Das Angebot beschreibt Prof. Sabel in seinem Buch als „dreisten Korruptionsversuch, inklusive Bestechung und Impact-Factor-Manipulation“. Die Agentur bot an, ihn regelmäßig mit Manuskripten zu versorgen, und versprach eine Belohnung, wenn der Publikationsprozess „verkürzt“ werden könnte. Für jede Veröffentlichung in seinem Journal sollte er 1.500 US-Dollar erhalten – multipliziert mit dem Impact-Faktor seiner Zeitschrift. Das wären dann 4.500 EUR pro akzeptierter Publikation. Außerdem würden die Inhalte seiner Arbeiten in anderen Artikeln der Paper Mills zitiert werden, um so den Impact-Faktor der Zeitschrift zu steigern, so das Angebot.

Prof. Sabel vereinbarte mit der Organisation einen Zoom-Call, den er auf Nachfrage sogar aufzeichnen durfte. In dem Anruf erklärte ihm sein Gesprächspartner in gebrochenem Englisch freundlich und mit Selbstverständlichkeit das Geschäftsmodell. Einen Ausschnitt des Videotelefonats zeigte der Experte in einem Vortrag an der Universität Stockholm (sciii-it.org/our-mission). 

Die rechtlichen Konsequenzen für nachgewiesenes wissenschaftliches Fehlverhalten sind begrenzt. „In Deutschland ist Lügen nicht verboten“, erklärt Prof. Sabel. Rechtssysteme sind national geregelt, und die Verantwortlichkeiten von Stakeholdern der Wissenschaft sind oft komplex und nicht immer klar verteilt. Somit gestaltet sich auch die Schuldfrage komplex. Zwar liege der Ursprung bei den Kunden, also bei den Autoren, doch jeder Herausgeber könne auf die Reviewer verweisen und der Verlag wiederum auf die Empfehlung der Herausgeber. „Am Ende ist keiner schuld“, fasst Prof. Sabel das Dilemma zusammen. 

Es gibt engagierte Wissenschaftsdetektivinnen und -detektive, die versuchen, Forschungsbetrug aufzudecken. Eine von ihnen ist die in den USA lebende niederländische Mikrobiologin Elisabeth Bik. Sie durchforstet Publikationen nach verdächtigen Bildern. Für ihre Arbeit wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet – aber auch als „Hexenjägerin“ beleidigt. 

Solche Initiativen zur Aufdeckung von Täuschungsversuchen erhalten zunehmend Anerkennung, doch sie reichen nicht aus. Es brauche eine Reform des „toxischen Karriere- und Bewertungssystems“, schreibt Prof. Dirnagl in einer seiner Kolumnen. Er schlägt für Berufungsverfahren strukturierte narrative Lebensläufe vor, in denen Kandidatinnen und Kandidaten erklären, warum sie bestimmte Arbeiten als ihre wichtigsten auswählen und welchen konkreten Beitrag sie geleistet haben. 

700 Institutionen wollen ihr Bewertungssystem anpassen

Ein Ansatz, in den Prof. Dirnagl große Hoffnung setzt, ist die Coalition for Advancing Research Assessment (CoARA). Dabei handelt es sich um eine Initiative mit über 700 Institutionen, die planen, an ihrer Einrichtung das aktuelle Bewertungssystem anzupassen. Entscheidend ist die große Teilnehmerzahl. Würden nur einzelne Institutionen mitmachen, hätten deren Mitarbeitende bei Bewerbungen an anderen Universitäten Nachteile, weil sie dort noch nach den alten Kriterien bewertet würden. 

Noch weiter geht die im November veröffentlichte Stockholm-Deklaration, die Prof. Sabel zusammen mit Prof. Dr. Dan Larhammar von der Universität Uppsala initiiert hat als Ergebnis eines Expertentreffens an der Royal Swedish Academy of Science im Juni 2025. In der Erklärung werden konkrete Maßnahmen gefordert, um das Publikationssystem zu reformieren (sciii-it.org/stockholm-declaration): 

  • Die Wissenschaft soll wieder die Kontrolle über das Publikationswesen von den gewinnorientierten Verlagen zurückgewinnen, z. B. durch Non-Profit-Publikationsmodelle wie Diamond Open Access.
  • Anreizsysteme müssen stärker auf Qualität statt Quantität ausgerichtet werden.
  • Unabhängige Betrugserkennungssysteme sollen gefälschte Publikationen identifizieren.
  • Gesetze und Regulierungen sollen die Wissenschaftsintegrität schützen und Täuschungsversuche sanktionieren.

Es werde immer mehr Unsinn publiziert und selbst zuverlässige Forschung mit Zahlentricks und Framing uminterpretiert. Beides verseucht auch das Wissen, warnt Prof. Sabel. „Wenn man nicht dagegenhält, dann besteht ein echtes Risiko für einen Wissenskollaps unserer intellektuellen Infrastruktur.“ Trotz dieser zunehmenden Problematik gilt es, vorschnelle Schlüsse zu vermeiden. „Es wäre völlig übertrieben, die Wissenschaft unter Generalverdacht zu stellen“, sagt er. Zwar sei Skepsis grundsätzlich berechtigt, doch bestehe die Gefahr einer unzulässigen Generalisierung

Red Flags – was auf die Arbeit einer Paper Mill hinweist

Bestimmte Aspekte können auf gefälschte Publikationen hindeuten. Einzeln betrachtet sind sie keine Beweise, aber sie stellen ein erstes Warnsignal dar.

Verdächtige Autorenangaben:

  • private oder gefälschte E-Mail-Adressen der korrespondierenden Autorinnen und Autoren (z. B. @medx.ovgu.de statt @med.ovgu.de)
  • fehlende ORCID-Nummern
  • keine Angaben zu Fördermitteln 

Auffällige Autorenlisten:

  • Autorenliste mit vielen Autorinnen und Autoren, ggf. aus Ländern mit besonderem Drang zu wissenschaftlichem Wachstum (z. B. China, Indien, Russland, Türkei, Iran)
  • Autorinnen und Autoren aus sehr unterschiedlichen Fachgebieten, obwohl das Thema nicht komplex genug dafür ist

Problematische Literaturverweise:

  • Zitate, die thematisch nicht zusammenpassen
  • Referenzen aus merkwürdigen oder sehr jungen Zeitschriften (mögliche Raubjournale)
  • mehrere zurückgezogene Artikel in der Literaturliste (überprüfbar auf Retraction Watch)

Inhaltliche Warnsignale:

  • Einführung und Diskussion sehr technisch und nicht logisch nachvollziehbar
  • Ergebnisse sind „zu schön, um wahr zu sein“

*Quality | Ethics | Open Science | Translation

Quelle: Medical-Tribune-Bericht