practica-Oktoberfest „Die Zeit spielt für uns!“
Gleich zu Beginn wurde Dr. Hans-Michael Mühlenfeld vom Institut für hausärztliche Fortbildung (IhF) als neuer Tagungspräsident vorgestellt. Er übernahm den Staffelstab von Prof. Frank Mader, der über 30 Jahre lang die practica privat organisiert hatte. Für seine Verdienste ist Mader dann zu Beginn des „Berufspolitischen Oktoberfestes“ nach bewegenden Reden mit minutenlangem Applaus von den Teilnehmern gewürdigt worden. Als wissenschaftlicher Leiter tritt Dr. Frederik Mader in die Fußstapfen seines Vaters. Somit dürfte für Kontinuität auf der practica, die von Beginn an mit dem Motto „Fortbildung zum Anfassen“ geworben hat, gesorgt sein.
Die Orientierung an der Praxis ist einzigartig, stellte auch der Allgemeinmediziner Dr. Florian Vorderwülbecke aus Deisinghofen bei München fest. Was in Bad Orb am Samstag gelernt werde, könne gleich am Montag in der Praxis angewandt werden. Trotz dieser großen Vorzüge der practica möchte Mühlenfeld die größte Seminar-Fortbildungsveranstaltung für Hausärzte in Europa weiterentwickeln. So soll die Teamfortbildung und auch die Online-Fortbildung nach und nach ausgebaut werden. Doch auch ohne diese Neuerungen war die Resonanz erneut positiv: 1 100 Teilnehmer hatten vier Tage lang die Qual der Wahl, sich aus 170 Veranstaltungen, Seminaren und Workshops ihre Highlights auszusuchen.
Hausärzteverband spricht von sehenswerter Bilanz
Dazu gehörte natürlich auch wieder das „Berufspolitische Oktoberfest“, das danach in gewohnter Art und Weise Fahrt aufnahm. Dort gab Hausärzte-Chef Ulrich Weigeldt mit seiner Positionsbestimmung zu den Hausarztverträgen gleich mächtig Gas, sicher auch, um die Stimmung ein wenig anzuheizen. Zwar könne sich die Bilanz angesichts von 37 Vollversorgungsverträgen mit 15 000 eingeschriebenen Ärzten und 2,7 Millionen versorgten Patienten durchaus sehen lassen, bekräftigte Weigeldt nicht ohne Stolz. Dennoch sei es sehr schwer, über das bisherige Maß hinaus weitere Allgemeinärzte von den Vorteilen der Hausarztverträge zu überzeugen. Das Potenzial sei aber noch längst nicht ausgeschöpft. Zu sehr ließen sich die Allgemeinärzte jedoch von den Ängsten, die von verschiedenen Seiten immer wieder geschürt würden, beeindrucken. Die meisten dieser Ängste, so Weigeldt, seien aber pure Ideologie und hielten einer fundierten Überprüfung in keiner Weise stand.
So kritisierte DHÄV-Hauptgeschäftsführer Eberhard Mehl insbesondere die Debatte über den Datenschutz, die immer wieder suggerieren sollte, dass die Daten aus den Arztpraxen ungeschützt bei den Kassen landen. Dies habe die Entwicklung der Hausarztverträge weit zurückgeworfen und sogar mit dazu beigetragen, die „außergewöhnlich guten Ergebnisse“ des evaluierten Hausarztvertrages in Baden-Württemberg zu konterkarieren. Dabei hätten mittlerweile sämtliche Datenschutzbeauftragte der Länder – außer in Schleswig-Holstein – grünes Licht gegeben und den Verträgen ihren Segen erteilt. Doch auch den „Protagonisten in der kompletten KV-Welt“ seien die Verträge umso mehr ein Dorn im Auge, je intensiver sie von den beteiligten Hausärzten „gelebt“ werden.
Kassen bremsen noch immer bei Hausarztverträgen
Leider haben auch die Krankenkassen nach den Erfahrungen Mehls immer wieder versucht, mit großer Polemik und unter Missachtung der gesetzlichen Anforderungen die Hausarztverträge zu unterlaufen. Zwar habe es die AOK Baden-Württemberg geschafft, eine Menge „Bewegung und Wirbel“ in die Kassenlandschaft hineinzutragen. Diese Steilvorlage hätten aber viele andere AOKen nicht genutzt, um „ja nicht aus der kuscheligen Atmosphäre der Gesamtvergütung herauszukommen“, nahm Mehl in Bad Orb kein Blatt vor den Mund. Der größte Vorzug der Selektivverträge sei es, die Versorgung der Patienten von Ärzten und Kassen gemeinsam „auf Augenhöhe zu organisieren“, ist Mehl überzeugt. Diese neue partnerschaftliche Rolle traut der Hausärzteverband in Zukunft neben der AOK Baden-Württemberg insbesondere der Techniker Krankenkasse zu – dann erstmals auch auf Bundesebene.
Warum ist das aber für die Hausärzte so wichtig, wollten insbesondere die practica-Teilnehmer wissen, die bisher gar nicht oder kaum in den Genuss von Selektivverträgen gekommen sind. Auch dafür hatten Mehl und Weigeldt sogleich eine Antwort parat. Jeder Hausarztvertrag, den der Hausärzteverband auch nach den jetzigen re-
striktiveren gesetzlichen Vorgaben zum Abschluss bringen konnte, sei für die Hausärzte immer noch besser als alle Kollektivverträge, lautete die einhellige Antwort.
Darauf konnten auf dem Oktoberfest insbesondere die Allgemeinärzte anstoßen, die aus Baden-Württemberg kommen und einen hohen Anteil von AOK-Patienten betreuen. Damit will sich der Hausärzteverband aber in keiner Weise zufriedengeben, machte Mehl klar. So sei es zum Beispiel gelungen, in Hessen für die Hausärzte trotz der restriktiven gesetzlichen Vorgaben ein Honorarplus von rund 10 % herauszuholen. In Nordrhein-Westfalen, einem Bundesland mit einem „miserablen“ Kollektivvertrag, sei ein ähnlich positives Ergebnis erzielt worden. Dieser Vertrag, in dem grundsätzlich Mehrleistungen nur dann vergütet werden, wenn zugleich auch Einsparungen in gleicher Höhe realisiert werden können, sei vom Land Hessen auch jüngst nicht beanstandet worden, merkte Mehl erfreut an. Im Vergleich zum „1a-Hausarztvertrag“ beispielsweise in Baden-Württemberg könnten die neuen Verträge in Hessen und Nordrhein-Westfalen zwar nur mit einer „3 minus“ benotet werden. Dennoch seien auch diese Abschlüsse ein „gutes und attraktives Angebot“ für die Hausärzte und belegten, dass der Deutsche Hausärzteverband bundesweit der einzige Verband innerhalb der Ärzteschaft ist, der das Schicksal der von ihm vertretenen Ärzte „flächendeckend in die eigenen Hände nehmen kann“. Die meisten anderen Verbände seien nach wie vor auf „Gedeih und Verderb“ dem Kollektivvertragssystem ausgeliefert.
Die richtige Wahl treffen
Für diese Position erntete die Führungsspitze des Hausärzteverbandes beim „Oktoberfest“ auf der practica 2012 den größten Beifall. Die künftige politische Auseinandersetzung um die Hausarztverträge sahen die meisten Teilnehmer in Bad Orb ohnehin überraschend gelassen. Angesichts der jüngsten Entwicklungen im Kollektivvertragssystem und des sich zuspitzenden Ärztemangels war der Tenor der Allgemeinärzte von der Basis eindeutig: „Die Zeit spielt für uns.“
Trotzdem dürfe man nicht den Fehler machen, einfach nur abzuwarten, warnte Mehl. Weit besser seien Aktivitäten wie die des Hausärzteverbandes in Bayern, der mit Hilfe von Unterschriftenlisten den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages zwingen will, sich mit der Refinanzierungsklausel der Hausarztverträge zu beschäftigen. Deren Abschaffung hält Ulrich Weigeldt keinesfalls für aussichtslos. Angesichts der „politischen Großwetterlage“ sieht der Vorsitzende des Hausärzteverbandes gute Chancen, dass die zwingende Refinanzierungsklausel für Hausarztverträge nach der Bundestagswahl wieder gekippt werden kann.
Mit der Streichung des Absatzes 5a im § 73 SGB V, dem wichtigsten berufspolitischen Ziel des Hausärzteverbandes bis zur Wahl im Herbst 2013, könnten sich immer mehr Parteien anfreunden, erklärte Weigeldt in Bad Orb. Bei der SPD gebe es dazu bereits einen Parteitagsbeschluss, bei der CSU ein „klares Bekenntnis“ und auch bei den Grünen seien „deutliche positive Trends“ zu erkennen. Und selbst innerhalb der CDU beobachtet Weigeldt „unterschiedliche Strömungen“, die vor und nach der Bundestagswahl noch für reichlich Zündstoff sorgen könnten. Zusätzlich sei es aber auch erforderlich, dass alle politisch aktiven Hausärzte im Wahljahr die anderen – weniger engagierten – Allgemeinärzte einer Region mobilisieren müssten, forderte Mehl. Dabei sollten dann auch gemeinsam die Bundestagsabgeordneten vor Ort direkt angesprochen werden, um so von der Basis aus noch mehr Druck auf die Parteien in Berlin aufzubauen. Dafür, so versprach Mehl, gebe es dann bei der practica 2013 neben den üblichen Fortbildungspunkten zusätzlich auch „eigene Mehl-Fortbildungspunkte.“ Es dürfte sich so für die Allgemeinärzte gleich in doppelter Weise auszahlen, im Wahljahr 2013 für eigene und bessere Hausarztverträge zu kämpfen.▪
Raimund Schmid
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (1) Seite 62-64
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.