Mütter mit Migräne Wenn Vorsicht zur Vernachlässigung wird
Strenge Vorsichtsregeln drängen Schwangere und Stillende mit Migräne oft in die völlige Medikamentenabstinenz.
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Es gibt Patient*innengruppen, die im medizinischen Alltag besonders viel Aufmerksamkeit brauchen. Und dann gibt es jene, die zwar im Zentrum aller Vorsichtsmaßnahmen stehen, deren eigene Bedürfnisse aber paradoxerweise immer mehr aus dem Blick geraten: Frauen mit Kinderwunsch, Schwangere und stillende Mütter.
In meiner Sprechstunde im Westdeutschen Kopfschmerzzentrum, aber auch auf Patientenveranstaltungen und in den sozialen Medien sehe ich immer häufiger Frauen, die nicht nur unter ihrer Migräneerkrankung leiden, sondern unter einem System, das sie zu fast vollständiger Medikamentenabstinenz drängt. Das ungeborene oder gestillte Kind steht im Mittelpunkt – die Mutter rutscht aus dem Bild. Die Devise scheint zu lauten: „Bloß nichts geben!“ Egal, wie stark die Beschwerden sind, egal, ob eine Therapie nachweislich sicher und wirksam wäre.
Natürlich ist Vorsicht wichtig. Aber irgendwo zwischen richtiger Zurückhaltung und übertriebenem Alarmismus hat sich die Waage in die falsche Richtung verschoben. Und mit ihr die Qualität der Versorgung.
Ein Beispiel ist die neuerliche Diskussion um Paracetamol. Plötzlich stand der Verdacht im Raum, eine Einnahme in der Schwangerschaft könne Autismus oder ADHS begünstigen. Die Datenlage? Kein belastbarer Hinweis. Dennoch treffe ich zunehmend Schwangere, die aus Angst überhaupt keine Medikamente mehr einnehmen – selbst bei schweren Migräneattacken. Angst ersetzt hier Evidenz.
Und diese Angst bleibt nicht folgenlos. Einige Frauen berichten, dass sie aufgrund der ständigen Unsicherheit und Warnungen ihren Kinderwunsch infrage gestellt haben. Andere entscheiden sich tatsächlich gegen eine Schwangerschaft, weil sie das Gefühl haben, sie würden im Falle einer Erkrankung allein gelassen. Wieder andere stillen früher ab, als sie es eigentlich gewollt hätten – nicht, weil es medizinisch notwendig wäre, sondern weil sie nicht wissen, wie sie ihre Migräne in der Stillzeit behandeln sollen. Die Konsequenzen sind real: Stress, Schuldgefühle und das Empfinden, der Krankheit vollkommen ausgeliefert und nicht mehr handlungsfähig zu sein.
Hinzu kommen fragwürdige Empfehlungen selbst von offiziellen Institutionen wie der Europäischen Arzneimittelbehörde, die dazu rät, nach Sumatriptan eine Stillpause von zwölf Stunden einzulegen – obwohl es keine neuen Sicherheitsdaten gibt, die eine solche Stillpause aus medizinischen Gründen rechtfertigen. Zwölf Stunden! Wer jemals ein Neugeborenes betreut hat, weiß, wie lebensfern das ist. Ein Wechsel zwischen Stillen und Fläschchengabe lässt sich im echten Leben nicht „einfach so“ umsetzen.
Viele Babys akzeptieren eine Flasche gar nicht – oder man riskiert, dass danach die Brust verweigert wird. Gleichzeitig ist das vollständige Weglassen von Sumatriptan oft genauso unrealistisch: Wer eine schwere Migräneattacke hat, kann häufig weder stillen noch das Baby anderweitig zuverlässig versorgen.
Auch prophylaktische Therapien werden Frauen oft vorschnell vorenthalten. „Lieber nichts machen“ klingt vorsichtig und verantwortungsvoll. Es ist aber ebenfalls eine Entscheidung für etwas – und nicht immer die beste.
Wir müssen uns klarmachen: Eine leidende, erschöpfte, verunsicherte Mutter ist auch für das Kind nicht ideal. Und eine Frau, die aus Angst vor unklaren Risiken ihren Kinderwunsch aufgibt oder früher abstillt, als sie es möchte, bezahlt einen hohen Preis für eine vermeintliche Gefahr, die wissenschaftlich nicht belegt ist.
Es ist höchste Zeit, die medizinische Betreuung wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Statt schwarz-weiß zu urteilen, brauchen wir eine echte Abwägung: Was ist wirklich wissenschaftliche Evidenz? Was ist plausibel? Was ist Mythos? Und wie geht es der Frau, die vor uns sitzt?
Nichts tun ist nicht automatisch sicherer. Manchmal ist es nur Alarmismus im weißen Kittel. Doch Frauen und ihre Kinder verdienen eine bessere Medizin – eine, die sie beide berücksichtigt.