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Deutsche Arzneimittelversorgung Am Tropf der Volksrepublik

Gesundheitspolitik Autor: Isabel Aulehla

Ohne Wirkstoffe aus China wären viele Generika in Europa nicht mehr verfügbar. Besonders groß sind die Abhängigkeiten bei Antibiotika. Ohne Wirkstoffe aus China wären viele Generika in Europa nicht mehr verfügbar. Besonders groß sind die Abhängigkeiten bei Antibiotika. © SiberianArt/gettyimages, Comauthor – stock.adobe.com, infinity– stock.adobe.com
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Die deutsche Arzneimittelversorgung sollte weniger auf China angewiesen sein, meint die Bundesregierung. Studien zeigen: Vor allem in einem Marktsegment bestehen Abhängigkeiten. Darüber, wie sich das ändern lässt, streiten Krankenkassen und Pharmafirmen.

Wenn China sich morgen Taiwan einverleibt – wie handlungsfähig oder hilflos wäre dann die EU? Wäre sie von der Volksrepublik so abhängig wie zuletzt von russischem Gas nach dem Angriff auf die Ukraine? Ähnliche Fragen stellte sich die Bundesregierung beim Ausarbeiten ihrer China-Strategie. Als einen kritischen Bereich benannte sie pharmazeutische Lieferketten. Man wolle sich wirtschaftlich zwar nicht abkoppeln, aber ein „De-Risking“ betreiben, die Abhängigkeiten also reduzieren. Welche Teile des Pharmamarktes sind aber auf Lieferungen aus China angewiesen? Und kann das Lieferengpass-Gesetz daran etwas ändern? 

Wie abhängig ist der deutsche Pharmamarkt?

Eine Abhängigkeit von China besteht vor allem bei einfachen chemischen Wirkstoffen*, die in Generika verwendet werden, erklärt Prof. Dr. ­David Francas, Experte für Lieferketten an der Hochschule Worms. Die Abhängigkeit betrifft damit einen großen Teil der täglichen Arzneimittelversorgung in Deutschland. Denn Generika machen laut dem Branchenverband „Pro Generika“ 80 % davon aus.

Rund 70 % aller generischen Wirkstoffe stammen aus Asien, wobei China und Indien die beiden größten Lieferanten sind, präzisiert Prof. Francas. Die europäische Produktion beschränke sich auf Stoffe mit kleinem Produktionsvolumen und komplexen Herstellungsverfahren (s. Kasten). Um die Abhängigkeiten des Pharmamarktes zu untersuchen, beauftragte Pro Generika 2020 eine Studie zu 560 Wirkstoffen, die hierzulande benötigt werden (s. Link). Die Autoren analysierten, welche Hersteller über CEP** für diese Stoffe verfügen, also über die offizielle Bestätigung, einen Wirkstoff in der vom europäischen Arzneibuch geforderten Qualität produzieren zu können. Die Ergebnisse

  • Nur ein Drittel der CEP für Stoffe, die in Deutschland benötigt werden, wird von europäischen Standorten gehalten.
  • Mehr als die Hälfte der CEP liegen in Indien (41 %) und China (13 %).
  • 93 der untersuchten Wirkstoffe werden nicht in Europa hergestellt.
  • Für mehr als die Hälfte der untersuchten Wirkstoffe gibt es global nur fünf oder weniger Hersteller.

Wer produziert welche Stoffe?

Laut der Studie von Pro Generika werden viele Wirkstoffe entweder überwiegend in Asien oder in Europa produziert. Sie schließen daraus, dass Standortfaktoren stark wirken.

In Europa produzieren Firmen vor allem Benserazid, Propofol, Methotrexat, Levothyroxin, Tamoxifen, Oxycodon und Formoterol. Aus China stammt ein großer Teil der Antibiotika Amoxicillin, Azithromycin, Piperacillin sowie Prednisolon und das Antihypertonikum Candesartan. Indien ist führend bei Quetiapin, Metformin, Ramipril, Diclofenac, Venlafaxin und Simvastatin.

Eine besondere Gefahr sehen die Studienautoren darin, dass sich die Produktion nicht nur bei wenigen Herstellern in China und Indien ballt, sondern dort auch nur in wenigen Provinzen. Das Klumpenrisiko mache besonders anfällig für Störungen der Lieferketten. Beispielsweise wurden chinesische Hafenterminals aufgrund von Corona-Ausbrüchen geschlossen. Unvergessen auch das Containerschiff, das sich vor wenigen Jahren im Suez­kanal verkeilte und weltweit den Handel störte.

Im Mai bezifferten 19 EU-Staaten in einem Non-Paper, dass 2019 rund 40 % aller global benötig­ten Wirkstoffe aus China kamen. Die Abhängigkeit reiche aber weiter – denn fast alle Wirkstoffproduzenten würden ihre Ausgangsstoffe aus China beziehen. 

Neben den Wirk- und Ausgangsstoffen können laut Prof. Francas auch Verpackungsmaterialien und pharmazeutische Hilfsstoffe leicht knapp werden. Das „Secondary Manufacturing“ zum Beispiel, das Pressen und Verpacken der Tabletten, finde überwiegend noch in Europa statt. Aus Gesprächen wisse er, dass Hersteller durchaus größere Mengen von Wirkstoffen vorrätig halten, aber mögliche Engpässe bei Glas, Papier etc. weniger auf dem Schirm haben.

Komplexe Arzneimittel muss China importieren

Dennoch ist die hiesige Pharmaversorgung nicht völlig von Asien abhängig. Die Produktion von innovativen Präparaten unter Patentschutz finde nach wie vor in den USA, der EU und den „Hightech-Nationen“ Asiens statt, etwa in Japan und Südkorea, relativiert Prof. Francas. Auch Biosimilars würden noch in der EU produziert, allerdings drängten indische und chinesische Hersteller auf den Markt. Da der Preisdruck wachse, gelte es zu verhindern, dass auch diese Produktion abwandert. „Biotech ist eine Zukunftstechnologie. Und Deutschland spielt mittlerweile bei nicht mehr allzu vielen Zukunftstechnologien eine führende Rolle.“

Und auch wenn China einfache Wirkstoffe in Massen produzieren kann, ist die Volksrepublik bei komplexeren Arzneimitteln stark von Importen abhängig – der wichtigste Lieferant ist sogar Deutschland, erklärt Gregor ­Sebastian vom Mercator Institute for China Studies. Im Jahr 2022 habe China Arzneimittel im Wert von fast 40 Mrd. US-Dollar importiert, etwa ein Fünftel davon aus Deutschland.

Erpressung mittels kritischer Lieferketten?

Würde China pharmazeutische Abhängigkeiten im Fall internationaler Interessenkonflikte als politisches Druckmittel einsetzen?

Die Einschätzung von Gregor Sebastian, Experte für chinesische Industriepolitik bei MERICS: „China hat bereits wirtschaftliche Mittel als politisches Druckmittel eingesetzt. Ein prominentes Beispiel ist das Importverbot gegenüber Litauen, nachdem Vilnius die Eröffnung eines „Taiwanbüros“ gestattet hatte. Während der Pandemie verhängte China auch Exportbeschränkungen für medizinische Güter, hauptsächlich zum Schutz der eigenen Bevölkerung. Pharmazeutische Abhängigkeiten könnten als Druckmittel dienen. Doch mit Blick auf Abhängigkeiten sind Rohstoffe für grüne Technologien wahrscheinlich Chinas erstes Mittel der Wahl, um Druck auszuüben. Die direkten Auswirkungen auf Menschenleben bei Arzneimitteln und API würden einen Konflikt sehr schnell eskalieren lassen.“

Quelle: Interview mit  Gregor Sebastian, Experte für chinesische Industriepolitik beim Mercator Institute for China Studies

Von den Krankenkassen zur ­Billigproduktion gezwungen? 

Vor 20 Jahren wurden generische Wirkstoffe noch überwiegend in Europa hergestellt (bezogen auf die 560 in der Pro-Generika-Studie untersuchten Stoffe und die Verteilung der CEP). Seitdem hat sich das Verhältnis gedreht. Durch Patentausläufe konnten neue generische Wirkstoffe produziert werden, in Indien und China gründeten sich zahlreiche Hersteller (s. Grafik). Beiden Trends misst die Studie für die Zukunft aber weniger Dynamik bei.

Dass China die Wirkstoffe zu besonders niedrigen Preisen anbieten kann, liegt auf der Hand. Die Regierung fördert die Produktion industriepolitisch, Lohn- und Sozialkosten sind geringer, die Umweltauflagen weniger anspruchsvoll. Die japanische Wirtschaftszeitung Nikkei Asia beziffert in einer Recherche, China könne sogar um 20 % billiger produzieren als Indien. 

Pharmafirmen kritisieren Rabattverträge der Kassen

Obwohl die Abhängigkeiten von Asien seit dem russischen Angriff auf die Ukraine stärker kritisiert werden, sehen viele Generika­hersteller keine andere Option. Sie argumentieren, der Kostendruck im deutschen GKV-System zwinge sie dazu. Insbesondere die Ausgestaltung der Rabattverträge ist ihnen ein Dorn im Auge. Den Zuschlag bekomme nur der Billigste, kritisiert Pro Generika. „Derzeit werden Hersteller, die in diversifizierte und resiliente Lieferketten inves­tieren, vom System bestraft. Sie haben in Ausschreibungen keine Chance, weil sie teurer sind als die ­Konkurrenz.“ 

Derzeit bekämen die Hersteller durchschnittlich 6 Cent für die Tagesdosis eines Generikums. Angesichts der unwirtschaftlichen Bedingungen müssten Unternehmen die Produktion mancher Arzneimittel einstellen. Der Mangel an Tamoxifen sei etwa so entstanden, erklärt Pro Generika auf seiner Homepage. Bloß zwei Unternehmen würden die Versorgung in Deutschland sichern. 

Der AOK-Bundesverband will diese Argumente nicht gelten lassen. Er hält den Einfluss deutscher Rabattverträge auf die unternehmerischen Entscheidungen global agierender Unternehmen für gering. Der Anteil Deutschlands am globalen Arzneimittelmarkt mache lediglich 4 % aus. Zudem verweist er darauf, dass die AOK-Gemeinschaft 2020 durchaus schon versuchte, robuste EU-Lieferketten bei der Vergabe von fünf Antibiotika-Rabattverträgen zu berücksichtigen. Firmen mit geschlossener europäi­scher Lieferkette hätten eine höhere Chance auf den Zuschlag gehabt und geringere Rabatte gewähren müssen. Von diesem Kriterium sahen sich einige Pharmahersteller jedoch diskriminiert – und gingen per Nachprüfungsverfahren dagegen vor. Die Vergabekammer des Bundes stellte eine Verletzung des Vergaberechts fest, das Oberlandesgericht Düsseldorf bestätigte dies. 

Krankenkassen zweifeln am Willen zur Produktion in EU

Vom Widerstand gegen eine andere Gestaltung der Rabattverträge abgesehen, sei die Argumentation der Pharmafirmen inkonsistent, meint der AOK-Bundesverband. „War es zunächst nur die Geldfrage, die einer Produktion in Europa im Wege stand, war es später eine Frage patentrechtlicher Vorteile in China und Indien und zuletzt kam wiederholt das klare Bekenntnis, dass auch Geld die Produktion nicht nach Europa brächte – und etwa eine zweite Lieferkette aus China die Lösung sei.“ 

Fragt man den Lieferkettenexperten Prof. Francas, haben sowohl die Hersteller als auch die Krankenkassen mit ihrer Perspektive recht. Die Wirkstoffe eines Medikaments machten bis zu 60 % seiner Kosten aus. Möchten die Firmen billig sein, müssen sie in Asien einkaufen, bestätigt der Wirtschaftswissenschaftler. Andererseits sei es eine politisch wichtige Maxime, Arzneimittelpreise bezahlbar zu halten. Das Dilemma sei Ausdruck einer Frage, auf die die Gesellschaft noch keine Antwort gefunden habe: „Wie gehen wir mit technischem Fortschritt um, der die Lebenserwartung verlängert, aber auch bezahlt werden muss?“ 

Bringt das ALBVVG Besserung?

Angesichts der jüngsten Lieferengpässe von Fiebersaft für Kinder ist der öffentliche Druck auf das BMG groß. Prof. Dr. Karl Lauterbach hat mit dem „Arzneimittellieferengpass- und Versorgungsverbesserungsgesetz“ (ALBVVG) reagiert. Es soll Lieferengpässe unter anderem verhindern, indem es Rabattverträge für Kinderarzneimittel verbietet und Preiserhöhungen ermöglicht. Außerdem müssen Krankenkassen bei Verträgen für Antibiotika berücksichtigen, wenn Wirkstoffe in Europa produziert werden. Die Meinungen zum Gesetz sind geteilt.

„Es bleiben gute Ansätze, die aber punktuell gedacht sind“, resümiert Prof. Francas. Er bedauert, dass die finale Version des Gesetzes kaum noch Krebsmedikamente berücksichtigt. Grundsätzlich vermisst er bisher eine systematische Analyse der Lieferketten. „Ich muss wissen, wo ich etwas verstärken muss, bevor ich es verstärke.“ Das Gießkannenprinzip helfe nicht weiter. Er empfiehlt einen Blick in die USA. Diese hätten Arzneimittellieferketten als Teil ihrer nationalen Sicherheitspolitik als besonders versorgungsrelevant definiert. Auch hierzulande müsse man Lieferketten datengestützt hierarchisieren und Schwächen identifizieren. 

Eine Wiederansiedlung der Produktion wäre ein politisch ehrgeiziges Projekt, gibt der Experte zu bedenken. So koste ein chemisches Werk allein für einen Wirkstoff 50 bis 150 Mio. Euro. Versorgungsrelevant seien in Deutschland etwa 500 Wirkstoffe. „Das zeigt schon, dass ein nationaler Alleingang nicht funktionieren kann. Wir brauchen europäische und transatlantische Ansätze“, fordert Prof. Francas. Zudem müsse die Gesundheitspolitik enger mit dem Wirtschaftsministerium zusammenarbeiten.

Der Verband Pro Generika befürchtet, dass das ALBVVG das Risiko von Engpässen sogar noch verschärfen könnte. Grund ist eine Klausel, nach der Unternehmen, die an einem Rabattvertrag teilnehmen wollen, den Bedarf von sechs Monaten vorproduzieren und auf Lager halten müssen. Zum einen fehlten Produktionskapazitäten für die Lagerware, so der Verband. Zum anderen verursache die Lagerung zusätzliche Kosten. Statt Anreize für eine Rückholung der Produktion zu geben, schrecke man Unternehmen davon ab, zu investieren.

Mehr Transparenz und Einheitlichkeit gefordert

Der AOK-Bundesverband begrüßt die Klausel zur Lagerhaltung und fordert, sie auf nicht rabattierte Arzneimittel auszuweiten. In diesem Bereich komme es deutlich öfter zu Lieferengpässen. Kritisch sieht die AOK, dass BMG und BfArM ohne näher beschriebene Kriterien eine drohende Marktkonzentration feststellen und die neuen Vergaberegeln für Antibiotika auf andere Arzneimittelgruppen erweitern können.

Der AOK-Verband fordert außerdem einen EU-Rechtsrahmen, der Hersteller zu mehr Transparenz und Einheitlichkeit verpflichtet. Gewünscht sind etwa eine Vereinheitlichung der europäischen Packungsgrößen und Kennzeichnungsvorgaben für Verpackung und Beilage. Zudem dürften die Lagerbestände in den Nachbarstaaten nicht „Geheimsache“ bleiben.

* Gemeint sind nur die pharmazeutisch aktiven Inhaltsstoffe („API“), keine fertigen Arzneimittel. 
** Certificate of Suitability of Monographs of the European Pharmacopoeia

Quelle: Medical-Tribune-Bericht

Prof. Dr. David Francas, Professur für Supply Chain und Data Analytics an der Hochschule Worms Prof. Dr. David Francas, Professur für Supply Chain und Data Analytics an der Hochschule Worms © Matt Stark, www.mattstark.de
Gregor Sebastian, Experte für chinesische Industriepolitik beim Mercator ­Institute for China Studies Gregor Sebastian, Experte für chinesische Industriepolitik beim Mercator ­Institute for China Studies © MERICS
In Asien gibt es fast doppelt so viele Wirkstoffhersteller wie in Europa. In Asien gibt es fast doppelt so viele Wirkstoffhersteller wie in Europa. © MT
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