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Triage Intensivmediziner sehen eigene Leitlinie als Vorlage für kommende gesetzliche Regelungen

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Etliche Intensivsta­tionen sind durch die vielen COVID-Patienten am Rande ihres Leistungs­limits angekommen. Etliche Intensivsta­tionen sind durch die vielen COVID-Patienten am Rande ihres Leistungs­limits angekommen. © iStock/Morsa images
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Eine erste Empfehlung für die Zuteilungen begrenzter intensivmedizinischer Mittel veröffentlichte die Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin bereits 2020. Seitdem erhitzt das Thema die Gemüter – Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen wie Krebs befürchten, im Falle eines Falles zu den Benachteiligten zu gehören.

Die steigende Anzahl von Coronapatienten, die intensivmedizinisch versorgt werden müssen, bringe auch die Krebszentren in Deutschland an die Belas­tungsgrenze, hieß es im Dezember in einer Pressemitteilung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), der Deutschen Krebshilfe und der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG). Verwiesen wurde auf die gemeinsame Corona Task Force, die regelmäßig 18 große deutsche universitäre Krebszentren (Comprehensive Cancer Center) befragt. Laut letzter Umfrage hatten im Herbst 2020 bereits zwei Drittel der befragten Kliniken coronabedingt keine Krebspatienten mehr aufnehmen können.

Überfüllte Stationen führen zur ungewollten Priorisierung

„Als ärztlicher Direktor einer universitären Klinik bin ich täglich damit konfrontiert, dass aufgrund des enormen Betreuungsaufwands von COVID-19-Erkrankten personelle Engpässe in der stationären Krebsversorgung entstehen, auch dringende Operationen verschoben werden oder Patientinnen und Patienten nach einer Krebs-OP frühzeitig die Intensivstation verlassen müssen, weil ihr Bett dringend gebraucht wird“, bestätigt DKB-Präsident Professor Dr. Thomas Seufferlein. „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass überfüllte Intensivstationen wegen Covid-19 zu einer ungewollten Priorisierung der zu behandelnden Patientinnen und Patienten – und damit zu einer stillen Triage – führen.“ Dass die Triage zum Klinikalltag werden könnte, davor warnt auch Professor Dr. Michael Baumann, Vorstandsvorsitzender des DKFZ.

Bereits 2020 hatte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) angesichts zunehmenden Pandemiedrucks und aus Sorge, es könne zur Triage kommen, die Leitlinie „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie“ veröffentlicht. „Wir entscheiden nicht nach Alter, Grunderkrankung oder Behinderung“, wurde jedoch betont. Dennoch war die Skepsis in der Bevölkerung groß, es könne ungerecht sortiert werden.

Das Bundesverfassungsgericht wurde schließlich von Beschwerdeführenden mit verschiedenen Behinderungen und Vorerkrankungen angerufen. Es wurde die Untätigkeit des Gesetzgebers moniert und eine verbindliche Regelung der Triage im Rahmen der Covid-19-Pandemie eingefordert. Die obersten Richter lehnten den Eilantrag ab. Ob und wann gesetzgeberisches Handeln in Erfüllung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber behinderten Menschen verfassungsrechtlich geboten sei und wie weit der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei Regelungen medizinischer Priorisierungsentscheidungen reiche, bedürfe einer eingehenden Prüfung. Dass die Situation der Triage eintrete, wurde zu diesem Zeitpunkt zudem als unwahrscheinlich angesehen.

Am 16. Dezember letzten Jahres allerdings erhielten andere Beschwerdeführende mit Blick auf das Grundgesetz und den dort verankerten Schutz des höchstrangigen Rechtsgutes Leben durch den Staat Recht. Der Gesetzgeber müsse Vorkehrungen zum Schutz behinderter und vorerkrankter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen, hieß es im Beschluss der Verfassungsrichter diesmal. Niemand dürfe benachteiligt werden. Der Gesetzgeber müsse seiner Handlungspflicht unverzüglich durch geeignete Vorkehrungen nachkommen: „Bei der konkreten Ausgestaltung bestehe Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum.“

Die DIVI hatte bereits im November letzten Jahres eine aktualisierte Vorabfassung ihres Leitlinienpapiers vorgestellt, auch angesichts des neuen Drucks durch die vierte Welle der Pandemie. In den Empfehlungen werde die Gleichbehandlung von Patienten mit COVID und anderen Erkrankungen klargestellt, betonte der Autor Prof. Dr. Jan Schildmann, Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Halle. Und Prof. Dr. Georg Mackmann, Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der LMU München, stellte klar: Jeder müsse Zugang zur Notversorgung bekommen. Erst wenn man feststelle, dass die Prognose sehr schlecht sei, würde man im tragischsten Fall die Therapie umstellen müssen auf eine ausschließlich leidenslindernde Therapie. So könnten bei begrenzten Ressourcen möglichst viele Menschenleben gerettet werden und die Tragik der Entscheidungen bliebe möglichst gering. Lasse sich Priorisierung nicht mehr vermeiden, müsse sie nach dem klinischen Kriterium Erfolgsaussicht erfolgen, gemessen an der Überlebenswahrscheinlichkeit im Hinblick auf den aktuellen Intensivverlauf, so Prof. Mackmann. Es würden jedoch allenfalls solche Patienten nicht behandelt, die trotz Intensivmedizin mit ganz großer Wahrscheinlichkeit ohnehin versterben würden.

Es müsse im Team beraten werden, welcher Patient eine realistische Chance auf ein gutes Therapieziel habe, auch mit Blick in die Zukunft hinein, sagt Prof. Dr. Uwe Janssens, Past Präsident der DIVI, Sprecher der DIVI-Sektion Ethik sowie Chefarzt am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. In den Handlungsempfehlungen würde kein Unterschied gemacht in Bezug auf die unterschiedlichen Erkrankungen, denn es gebe neben COVID auch den akuten Herzinfarkt, den akuten Schlaganfall, die akute Herzschwäche und den Autounfall. „Die geschilderte Gleichwertigkeit herzustellen ist eine klar medizinische Aufgabe“, so Prof. Janssens.

Regelung denkbar im Gleichbehandlungsgesetz

Die SPD-Bundestagsabgeordneten Johannes Fechner, Justiziar, und Heike Baehrens, gesundheitspolitische Sprecherin, gehen von einer baldigen gesetzlichen Regelung zur Triage aus. Es habe dazu bereits eine Expertenanhörung im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages gegeben. Auch die beiden Politiker sehen die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit als entscheidendes Kriterium für eine Triageentscheidung an. Dass Behinderungen stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden werden, sei zu verhindern: „Konkret können wir uns dafür eine gesetzliche Regelung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vorstellen.“ Die DIVI geht davon aus, dass ihre Empfehlungen eine solide Grundlage für zukünftige rechtliche Vorgaben durch den Gesetzgeber bieten.

Quelle: Medical-Tribune-Bericht

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