Anzeige

Sexismus und Rassismus im Medizinstudium „Das ist nur die Spitze des Eisbergs“

Niederlassung und Kooperation Autor: Isabel Aulehla

Diskriminierende Äußerungen bei Lehrveranstaltungen werden oft schweigend hingenommen. (Agenturfoto) Diskriminierende Äußerungen bei Lehrveranstaltungen werden oft schweigend hingenommen. (Agenturfoto) © iStock/skynesher
Anzeige

Studierende, die verbale oder körperliche Grenzüberschreitungen erleben, z.B. aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe, melden die Vorfälle oft aus Angst vor Nachteilen nicht. Ein neues Projekt der Uni Freiburg ermöglicht es nun, das Geschehen anonym bekannt zu machen.

Im Medizinstudium treten immer wieder Machtgefälle zutage – man denke etwa an die Hierarchie in der Klinik oder die Abhängigkeit der Studierenden von der Bewertung durch Lehrpersonen. Manche Dozierende missbrauchen diese Macht, indem sie Studierende verbal erniedrigen oder gar körperlich übergriffig werden.

Neues Online-Portal gibt Opfern anonym eine Stimme

Zumindest sexistische und rassis­tische Grenzüberschreitungen werden seit Dezember 2021 durch das Online-Portal „Detect“ der Uni Freiburg sichtbar gemacht. Bundesweit können Betroffene in medizinischer Ausbildung schriftlich schildern, was vorgefallen ist. Das Projektteam sichtet die Einsendungen dann und stellt sie anonymisiert auf die Website.

Obwohl das Projekt erst seit rund vier Monaten existiert und noch nicht offensiv beworben wurde, gab es bereits über 50 Einsendungen, berichtet Julia Haller, Lehrende am Institut für Allgemeinmedizin der Uni Freiburg und Mitglied des Projektteams. „Ich vermute, dass die bisherigen Einsendungen nur die Spitze des Eisbergs sind.“ Sie habe den Eindruck, dass Rassismus und Sexismus im Studium allseits bekannte, aber oft hingenommene Probleme seien. Für viele Studierende würden sie zum „schlechten Ton“ in den Kliniken gehören. Aus Angst trauten sich Betroffene oft nicht, die Vorfälle bei entsprechenden Beauftragten der Universitäten zu melden.

Zitate der Einsendungen

„So gefallen Sie mir doch gleich viel besser!“ – Chef zu einer Kollegin, der er den Kittel aufgerissen hatte „Frauen sind ungeeignet für Führungspositionen.“ – Leitender Oberarzt zu Seminargruppe während Stationspraktikum „Erzählen Sie doch mal, wie Ihre Erziehung so war. Mit einer asiatischen Mutter … Wie sehr wurden Sie zum Lernen gezwungen?“ – Oberarzt Orthopädie zu PJlerin „Ach, ich nenn‘ dich jetzt einfach mal beim Vornamen, deinen komischen Nachnamen kann ja niemand aussprechen. Du musst einen Deutschen heiraten, damit man endlich nicht mehr diesen Zungenbrecher aussprechen muss, das ist doch auch für die Patienten blöd.“ – Vorgesetzter Arzt zu Studierender „Wenn Du von mir Notfallmedizin lernen willst, möchte ich von dir etwas anderes …” – Anästhesist zu Medizinstudentin „Und Sie dürfen hier jetzt einfach so studieren und mein Sohn bekommt in Deutschland keinen ­Studienplatz?“ – Operateur im OP zu Famulant, welcher ursprünglich aus dem Iran kommt „Sie sehen gut aus, kochen jeden Tag, leisten gute Arbeit und sind im heiratsfähigen Alter. Auf jeden Fall ‚wifey material‘ …“ – Arbeitskollege zu Auszubildender „Frauen müssen zwei Dinge im Leben wissen: Wann man den Mund zumacht und wann auf.“ – Unfallchirurg (Facharzt) in der Anästhesie zu PJlerin und zwei weiteren im Raum anwesenden Frauen und einem Mann

Die Idee zu „Detect“ entstand, weil Studierende sich in Evaluationsbögen über solche Grenz­überschreitungen beschwerten. Ein Team des Instituts für Allgemeinmedizin in Freiburg nahm sich des Themas an. Es initiierte Fokusgruppeninterviews mit Betroffenen und orientierte sich dabei an einer Online-Befragung der Studierendengruppe „MIO – Menschenrechtsinitiative der Offenen Fachschaft Medizin“. Die Ergebnisse veröffentlichten die Beteiligten auf einem Poster, das auf dem 55. DEGAM-Kongress einen Preis gewann. Natürlich gibt es neben Rassismus und Sexismus weitere Formen der Diskriminierung, die auch im Medizinstudium auftreten können – etwa Antisemitismus oder Ableismus, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Auch Klassismus, die Abwertung von Personen aufgrund ihres sozio-ökonomischen Status, werde in der Lehre eher reproduziert als die Folgen strukturell zu besprechen, erklärt der Verein „Feminis­tische Medizin“. Es brauche noch viel Aufarbeitung – auch mit Blick darauf, wie man klassistischen Strukturen im Gesundheitswesen begegnen könne. „Da spielt auch Sprache beispielsweise eine Rolle. Wie kommunizieren wir mit Patient*innen, verstehen wir Lebensrealitäten von Menschen mit Klassismuserfahrung und können wir überhaupt hinreichend diesbezüglich unterstützen?“ Der Verein betont zudem, dass Diskriminierung gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit haben könne. Es gebe viele Studien, die dies zeigen. Daher sei es wünschenswert, das Wissen um die körperlichen und psychischen Folgen im Studium fest zu verankern.

Studierende zur kritischen Reflexion befähigen

Der Bundesverband der Medizinstudierenden fordert eine systematische Erfassung der Diskriminierung im Studium. Zudem müssten diskriminierungskritische Kompetenzen vermittelt werden. Denn in der Lehre werde Diskriminierung nicht nur ausgeübt, sondern auch reproduziert. Und um dies zu erkennen, bräuchten die Studierenden die Fähigkeit zur Reflexion. Die Betroffenen stünden zudem nicht selbst in der Verantwortung. Diese liege bei den übergriffigen Personen und bei Gesellschaft, Politik und Gesundheitssystem.

Diskriminierung in der Praxis

Was können Praxisteams im Alltag tun, um niemanden versehentlich zu diskriminieren? Der Verein „Feministische Medizin“ hat einige Tipps:
  • Sich um die korrekte Aussprache von Namen bemühen.
  • Betroffenen von struktureller Diskriminierung zuhören und ihnen die Erfahrungen nicht absprechen.
  • Sich in Teamfortbildungen mit unterschiedlichen Diskriminierungsformen auseinandersetzen (z.B. Antidiskriminierungstrainings besuchen).
  • Qualitätszirkel zum Thema strukturelle Diskriminierung entwickeln.
  • Eine Kultur etablieren, in der es möglich ist, eigene Handlungen zu reflektieren und sich gegenseitig zu stärken und zu korrigieren.
  • Personen mit Vor- und Nachnamen ansprechen statt mit Frau oder Herr, um auch nicht-binäre Personen einzuschließen.

Um Studierende und Lehrende dafür zu sensibilisieren, wo sie selbst gefährdet sind, Diskriminierung auszuüben, plant das Detect-Team künftig auch Seminare. Beispielsweise wüssten gerade ältere Dozierende manchmal nicht, dass eine sexis­tische Bemerkung eine Grenzüberschreitung darstelle und nicht etwa ein Kompliment, berichtet Haller. Andere Workshops sollen darauf eingehen, wie Betroffene und Zeugen reagieren können und sie in Schlagfertigkeit und Zivilcourage schulen. Wenn Patientinnen oder Patienten sich etwa rassistisch oder sexistisch gegenüber Studierenden äußern, seien anwesende Ärztinnen und Ärzte oft ebenfalls mit der Situation überfordert. Sie hätten selbst nicht immer eine Antwort parat oder fürchteten, es könnte als bevormundend aufgefasst werden, wenn sie die Studierenden in Schutz nehmen. Derzeit entwickelt das Projektteam diese Konzepte überwiegend ehrenamtlich, denn „Detect“ wurde nur für ein Jahr gefördert. Neue Anträge sind aber in Arbeit.

Medical-Tribune-Bericht

Anzeige