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MZEB Wie arbeitet ein Medizinisches Zentrum für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung? 

Niederlassung und Kooperation Autor: Isabel Aulehla

Linkes Bild: Riad Hammad (l.) erklärt zusammen mit Raphael (r.) und Sotiri Petridis (m.), wie der Übergang von Sozialpädiatrischen Zentren in MZEB abläuft. Rechtes Bild: Im psychologischen Sprechzimmer können Patienten es sich in einer Schaukel bequem machen.
Linkes Bild: Riad Hammad (l.) erklärt zusammen mit Raphael (r.) und Sotiri Petridis (m.), wie der Übergang von Sozialpädiatrischen Zentren in MZEB abläuft. Rechtes Bild: Im psychologischen Sprechzimmer können Patienten es sich in einer Schaukel bequem machen. © MT
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In Medizinischen Zentren für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung darf eine Anamnese bis zu zwei Stunden dauern. Das ist aber bei Weitem nicht die einzige Besonderheit. Medical Tribune hat ein Zentrum in Berlin besucht. 

Wie würden Sie einen Patienten mit Tyrosinhydroxylasemangel behandeln? Wahrscheinlich wären Sie ratlos –  die Erkrankung ist selten, in ganz Deutschland gibt es nur zehn Fälle. Sie kann zu einer komplexen Behinderung führen. Würde ein entsprechender Patient von seinen Angehörigen in die Praxis gebracht, weil er merkwürdig unruhig ist, wären viele Niedergelassene unsicher. Wie beginnt man in so einem Fall die Anamnese? Und wie geht man emotional auf den Patienten ein? Zum Glück gibt es Unterstützung: Seit einigen Jahren existieren medizinische Zentren, die sich auf die Versorgung von Erwachsenen mit komplexen Mehrfachbehinderungen spezialisiert haben, sogenannte MZEB. 

Medizinische Blaupausen helfen nicht weiter

Auch Rafail Petridis wird in einem MZEB versorgt. Der 22-Jährige sitzt im Rollstuhl und hat den besagten Tyrosinhydroxylasemangel. Im Zentrum der Cooperative Mensch* in Berlin-Süd fühlt er sich gut aufgehoben. „Er freut sich auf die Besuche hier“, erzählt sein Vater Soltiri Petridis. Bis Rafail 18 war, konnte er in einem Sozialpädiatrischen Zentrum versorgt werden. Danach wechselte er in das MZEB, mitsamt einer umfangreichen Patientenakte. Es wurde die Aufgabe von Riad Hammad, sich in Rafails individuelle Situation einzuarbeiten. Der Psychiater ist ärztlicher Leiter der Einrichtung. „Die Patienten sind oft so einzigartig in ihrer Körperlichkeit, dass wir mit den Standarderkenntnissen der Medizin nicht weiterkommen“, erklärt er. 

Herrscht in Ihrer Praxis emotionale Barrierefreiheit? Michael Ertel erklärt das Konzept

Wann ist eine Überweisung an ein MZEB möglich? 

Die Kriterien für eine Überweisung an ein MZEB unterscheiden sich von Einrichtung zu Einrichtung. Für das Zentrum in Berlin-Süd gelten folgende Kriterien:

  • Volljährigkeit
  • eine geistige Behinderung oder ein Grad der Behinderung von min. 70
  • eines der folgenden Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis: G, aG, H, Bl, Gl

MZEB sind noch relativ neu. Seit 2015 können sie sich für die ambulante Versorgung ermächtigen lassen (s. Kasten). Um der körperlichen, seelischen und emotionalen Situation der Patienten gerecht zu werden, arbeiten sie interdisziplinär. Zum Team in Berlin-Süd gehören neben Psychiater Dr. Hammad eine Psychologin, zwei Allgemeinärzte, ein Physiotherapeut, ein Case-Manager und eine MFA. Für Anamnese, Diagnose und Therapie ist erheblich mehr Zeit vorgesehen als in der Regelversorgung – allein das Erst-Assessment bei Neupatientinnen und -patienten dauert zwei Stunden. Feingefühl und Geduld sind gefragt.

„Die Patienten kommen nicht einfach mit einem eindeutigen Krankheitsbild wie einem grippalen Infekt“, erklärt Michael Ertel, praktischer Arzt. Stattdessen bestehen unklare körperliche Veränderungen oder Verhaltensauffälligkeiten. „Das Ziel ist es, herauszufinden, wo Interventionsbedarf besteht.“ Neben den Aussagen der Betroffenen selbst zählen auch die Beobachtungen ihrer Unterstützer zur sozialpsychologischen Situation: Wie geht es der Person emotional? Wie läuft beispielsweise die Arbeit in der Werkstatt und wie klappt das Miteinander mit den anderen Beschäftigten?  

Unterstützte Kommunikation erleichtert Verständigung

Bei Rafail ist es die Familiensituation, die belastet. Seine Mutter ist seit über 20 Jahren schwer krebskrank. Wenn er traurig ist, fährt er unruhig umher, „schiebt Filme“, meint sein Vater. Die Ärzte müssen dann herausfinden, was los ist und ob ein Eingreifen notwendig ist. Ansonsten sind Rafail und sein Vater oft stundenlang draußen unterwegs, Rafail lernt gerne Sprachen und interessiert sich für vieles. Zuletzt hat er sich eine Dokumentation über den NSU angesehen, erzählt er. 

Nicht alle Patientinnen und Patienten können sich so gut verständlich machen wie er. Die Cooperative Mensch hat daher eine eigene Beratungsstelle zur „unterstützten Kommunikation“, mit der das MZEB zusammenarbeitet. Bei manchen Menschen helfe es, Laute zu wiederholen, erklärt Psychologin Anja Schröder. Bei anderen kommen z.B. Piktogramme oder elektronische Hilfsmittel zum Einsatz. Ist gar keine Sprache möglich, kann das Ärzteteam die Angehörigen dabei unterstützen, ein „Über-mich-Buch“ anzulegen. Darin wird anhand von Erfahrungen notiert, was die Person mag oder nicht mag, was sie gerne tut und welche Wünsche sie hat. 

Palliative Begleitung entlastet Angehörige

Besonders wichtig sind solche Bücher in Leichter Sprache in der palliativen Betreuung. Stehen Patienten am Lebensende, kann das Team der Einrichtung ihnen gemeinsam mit den Angehörigen dabei helfen, einen Willen zu den anstehenden Schritten zu bilden. Sollen im Zweifel Beatmung oder künstliche Ernährung erfolgen? Gibt es etwas, dass die Person noch sagen oder erleben möchte? Wer soll bei der Beerdigung dabei sein? „Dass wir auch eine palliative Begleitung leisten, ist für viele Angehörige sehr erleichternd“, berichtet  Schröder. 

Die Verständigung mit Personen, die aufgrund ihrer besonderen Umstände nicht gut kommunizieren können, fällt den Ärztinnen und Ärzten nicht schwer. Man lerne im Laufe der Zeit, die Leichte Sprache zu verwenden und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, sind sie sich einig. Man könne sich etwa so ausdrücken als würde man mit einem Kind sprechen, meint Hammad. „Es ist ohnehin ein Unding, Patienten gegenüber Fachsprache zu verwenden“, findet er. Nach einer Frage müsse man darauf achten, auch mal sechs Sekunden auf eine Antwort zu warten. Außerdem sei wichtig, nicht sofort in Kategorien zu denken wie „Bluthochdruck“ oder „gebrochenes Bein“, ergänzt Ertel. Stattdessen müsse man das Gegenüber auf sich wirken lassen und aufmerksam beobachten. Auch herausfordernde Verhaltensweisen entstünden meist nur durch Zeitmangel, erklärt Psychologin Schröder. Ein einfaches Mittel, um Patientinnen und Patienten den Besuch angenehmer zu gestalten, seien kleine Belohnungen, etwa Süßigkeiten nach einer Blutabnahme, rät sie. 

Fragt man Rafail, wie er in medizinischen Einrichtungen behandelt werden möchte, überlegt er nicht lange. „Einfach normal.“

Antwort auf einen Versorgungsmangel

Die politische Grundlage für MZEB wurde 2015 mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz geschaffen. Ziel war es, eine Versorgungslücke zu schließen. Denn bis zum 18. Lebensjahr können Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung zwar in Sozialpädiatrischen Zentren versorgt werden, danach beginnt aber unter Umständen eine strapaziöse Arztsuche.

Die Vergütung der Zentren ist regional unterschiedlich und erfolgt entlang eines eigenen Fallpauschalensystems. Pro Quartal gibt es für Erst- und Wiederholungsbehandlungen zwischen 350 und 800 Euro. Die Unterschiede ergeben sich aus verschiedenen regionalen Anforderungen und Strukturen, schreibt die Bundesarbeitsgemeinschaft für MZEB. Derzeit gibt es bundesweit über 50 Einrichtungen. Zu finden sind sie über die Suche der AG.

Medical-Tribune-Bericht

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