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Somatoforme Störungen Die Psyche als Pathogen

Autor: Dr. Joachim Retzbach

Bei einer somatoformen Störung klagen die Betroffenen oft über mehrere unspezifische Beschwerden. Bei einer somatoformen Störung klagen die Betroffenen oft über mehrere unspezifische Beschwerden. © nenetus – stock.adobe.com
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Ungefähr jeder dritte Patient, der mit körperlichen Beschwerden zum Hausarzt kommt, hat gar keine organische Erkrankung – seine Symptome sind somatoform. Ein Experte erklärt, woran man das erkennt und wie man die Betroffenen auf dem Behandlungsweg begleitet.

Diffuse Bauch-, Brust- oder Rückenschmerzen, Abgeschlagenheit oder allgemeines Unwohlsein: Das sind häufige Gründe, die Patienten zu ihrem Hausarzt führen. Recht oft lässt sich dann in der Diagnostik aber kein Hinweis auf eine physische Erkrankung finden. „Je nach Untersuchung, die man zurate zieht, haben 20–40 % der Patienten, die mit körperlichen Beschwerden im Wartezimmer sitzen, letztlich keine organische Erkrankung“, sagt Dr. Thorsten Bracher, Vitos Klinik für Psychosomatik Eltville und Bad Homburg. Stattdessen handelt es sich um somatoforme Beschwerden.

Somatoform bedeutet entgegen einem hartnäckigen Vorurteil nicht, dass die Symptome eingebildet sind. „Es ist auch nicht so, dass die Patienten die Beschwerden simulieren“, erklärt Dr. Bracher im Podcast O-Ton Allgemeinmedizin. Das Leiden ist real – es gibt aber keine oder zumindest keine ausreichende organpathologische Ursache dafür.

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Die erste Herausforderung liegt darin, den somatoformen Ursprung von Symptomen zu erkennen. Denn eindeutige Indizien fehlen. Statistisch gesehen sind somatoforme Störungen bei Frauen etwas häufiger als bei Männern; das Hauptalter bei Erstmanifestation liegt zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Ein Hinweis kann Dr. Bracher zufolge sein, dass die Patienten über mehrere und relativ unspezifische Beschwerden klagen, also etwa über Schmerzen an verschiedenen Stellen des Bewegungsapparates statt über klar lokalisierte Probleme. „Wenn die Patienten schon bei vielen anderen Kollegen waren, vielleicht sogar eine ganze Unterlagenmappe dazu mitbringen, was schon gemacht worden ist, kann das ebenfalls ein Anzeichen dafür sein, dass es in Richtung somatoformer Störung geht“, sagt er.

Ablehnende Haltung der Patienten einkalkulieren

Gewissheit besteht natürlich erst nach einer eingehenden Diagnostik. Somatoforme Störungen lassen sich deshalb fast nie beim ersten Patientenkontakt erkennen. Da der Arzt nichts übersehen möchte, schon gar keine potenziell bedrohliche Erkrankung, und der Patient auf immer weitere Abklärung drängt, zieht sich der diagnostische Prozess oft in die Länge. Währenddessen erfolgen meist viele unnötige, auch invasive Untersuchungen.

Die nächste große Herausforderung besteht darin, die Patienten davon zu überzeugen, dass die Psyche für ihre Beschwerden (mit-)verantwortlich sein könnte. „Wenn man zu sehr mit der Tür ins Haus fällt und sagt, das ist alles seelisch bedingt, dann provoziert man eher ablehnende Reaktionen“, sagt Dr. Bracher. Stattdessen bieten sich offene Fragen nach möglichen Belastungsfaktoren in Beruf oder Partnerschaft an. Als günstig hat sich ein zweigleisiges Vorgehen erwiesen. Dabei lässt man die körperliche Diagnostik nicht außer Acht, bietet dem Patienten aber an, gleichzeitig eine seelische Mitverursachung der Beschwerden zu überprüfen.

„Man kann dabei durchaus auch Krankheitsmodelle etablieren, die organische Aspekte mitvermitteln“, so der Experte. Dann erklärt man den Patienten etwa, dass der Gastrointestinaltrakt eng mit dem zentralen Nervensystem verbunden ist, weshalb es natürlicherweise Wechselwirkungen zwischen Psyche und Verdauung gibt. Wenn man ihnen vorschlägt, beide Wege gleichzeitig zu beschreiten und zu schauen, was man auf diese Weise findet, lassen sie sich häufig darauf ein, so die Erfahrung von Dr. Bracher.

Zu Freizeitaktivitäten und mehr Bewegung ermuntern

Natürlich führt dieses Vorgehen nicht immer zum Ziel. Manche Patienten sind darauf festgelegt, dass ihre Symptome organisch bedingt sein müssen. In diesen Fällen hilft das „Abschieben“ zu fachärztlichen Kollegen nur kurzzeitig und führt auf allen Seiten zur Frustration, erklärt Dr. Bracher. Stattdessen empfiehlt er, sich für diese Patienten mehr Zeit zu nehmen. Man könne sie etwa zu Randterminen einladen oder direkt regelmäßige Termine vereinbaren. Das sei oft besser, als wenn die Betroffenen je nach gefühlter Akuität im ohnehin schon vollen Wartezimmer auftauchen.

Als Hausarzt kann man zudem darauf einwirken, dass die Patienten mehr Sport treiben und generell Aktivitäten in den Alltag einbauen, die ihnen vor dem Einsetzen der Symptome Freude bereitet haben. Denn häufig schonen sich die Patienten aus Angst vor einer Symptomverschlimmerung. Das führt in einen Teufelskreis mit weiter verstärkter Konzentration auf die Beschwerden.

Günstig ist auch Physiotherapie, weil sie den Bewegungsapparat stärkt, aber auch den Patienten das Gefühl zurückgibt, Einfluss auf ihre Befindlichkeit nehmen zu können. Entspannungsverfahren wie autogenes Training, progressive Muskelrelaxation und Achtsamkeitsübungen sind ebenfalls hilfreich. Diese lassen sich niedrigschwellig auch digital erlernen.

Wie entstehen somatoforme Störungen und welche Rolle spielen Kindheit und Familie dabei? Welche Psychotherapie ist geeignet und wie hängt das Krankheitsbild mit Long COVID sowie dem chronischen Erschöpfungssyndrom zusammen? Das hören Sie in der aktuellen Folge des Podcasts.

Medical-Tribune-Bericht