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Bereitschaftsdienstpools Ein Medizinrechtler bewertet die Auflösung durch die KVen

Gesundheitspolitik Interview Autor: Cornelia Kolbeck 

Die Verträge der Poolärzte für den ärztlichen Bereitschaftsdienst wurden aufgelöst. Die Verträge der Poolärzte für den ärztlichen Bereitschaftsdienst wurden aufgelöst. © mekcar – stock.adobe.com
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Das sog. Poolärzte-Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) hat im vergangenen Jahr die KVen in Unruhe versetzt. Pools, die für den ärztlichen Bereitschaftsdienst eingerichtet waren, wurden aufgelöst, Verträge gekündigt. War das vorschnelles Handeln? Der Fachanwalt für Medizinrecht Maximilian Jürgens bewertet die aktuelle Lage.

Die KVen haben nach dem BSG-Urteil schnell den Poolärzten gekündigt.  War das klug oder voreilig? 

Die KVen setzen die Poolärzte schlichtweg nicht mehr ein. Da sie keine Arbeitnehmer in dem Sinne sind, gab es keine arbeitsrechtlichen Kündigungen, aber bestehende Poolarztverträge wurden aufgelöst. Meiner Einschätzung nach ist das keineswegs voreilig, sondern nachvollziehbar gewesen, um für die KVen den wirtschaftlichen Schaden zu minimieren und weitere Konsequenzen zu vermeiden. 

Der Schaden wäre gewesen, die KV hätte Sozialbeiträge nachzahlen müssen? 

Die Sozialversicherungsbeiträge für die beschäftigten Ärzte, ja, und zwar den Arbeitnehmer- und den Arbeitgeberanteil. Auf den Webseiten der KVen werden teilweise Zahlen genannt. Bei der KV Rheinland-Pfalz zum Beispiel wird rückwirkend für die letzten vier Jahre mit Nachzahlungen von 12,5 bis 20 Millionen Euro gerechnet. Die wirtschaftlichen Auswirkungen für die KVen können heftig sein. Wenn die KV Baden-Württemberg knapp 3.000 Poolärzte beschäftigt hat, reden wir über erhebliche Summen.  

Hätten KVen auf das schriftliche Urteil warten sollen? 

Nein, auf keinen Fall. Die Begründung war so erwartbar, nach allem, was über den Sachverhalt bekannt war. Das BSG ist nicht von seiner bisherigen Rechtsprechung zur Abgrenzung von Beschäftigung und Selbstständigkeit abgewichen. Es ging um eine von der KZV betriebene Notdienstpraxis: Die Praxisräume waren von der KZV angemietet und das Praxispersonal wurde auf Minijob-Basis von der KZV beschäftigt. Die notdiensthabenden Zahnärzte hatten keinen Einfluss auf die Organisation des vertragszahnärztlichen Notdienstes. Diese lag allein bei der KZV. Die ganze personelle und materielle Ausstattung wurde also kos­tenlos von der KZV zur Verfügung gestellt und die Pool­ärzte erhielten eine feste Vergütung. Damit entfiel ein wesentlicher Punkt für die Frage, ob Beschäftigung oder Selbstständigkeit vorliegt: das wirtschaftliche Risiko für die Poolärzte. Wenn man die Rechtsprechung des BSG seit 2019 zur Tätigkeit von Honorarärzten im Krankenhaus und anderen Kooperationsmodellen anschaut, dann zeigt sich, dass die entscheidenden Kriterien immer die gleichen sind.

Worum ging es bei den Honorarärzten im Krankenhaus? 

Das BSG hat 2019 klargestellt, dass sog. Honorarärzte nicht selbstständig sind, wenn sie bei fester Vergütung, also ohne wirtschaftliches Risiko, Einrichtungen und Betriebsmittel des Krankenhauses nutzen und arbeitsteilig mit dem ärztlichen und pflegerischen Personal in vorgegebenen Strukturen zusammenarbeiten, weil sie dann fremdbestimmt in die Arbeitsorganisation des Krankenhauses eingebunden sind. 

Das waren  die maßgeblichen Kriterien, die dazu geführt haben, dass die Honorarärzte damals als unselbstständig Beschäftigte eingestuft wurden. Ärzte agieren bei einer medizinischen Heilbehandlung grundsätzlich frei und eigenverantwortlich. Hieraus kann aber nicht automatisch auf eine selbstständige Tätigkeit geschlossen werden.

Das heißt: In KV-Praxis oder im Bereitschaftsdienst sind die Poolärzte nicht frei in ihren Entscheidungen? 

In ihren medizinischen Entscheidungen waren sie natürlich frei und weisungsungebunden. Aber nicht bei organisatorischen Fragen und in wirtschaftlichen Entscheidungen. Die Argumente der Ärzte und der KVen sind immer gewesen, dass die ärztliche Tätigkeit im niedergelassenen Bereich als solche eine freiberufliche sei, in medizinischen Entscheidungen seien die Ärzte weisungsungebunden.

Die Ärzte müssten sich nur in das Organisationsgefüge eingliedern. Das hat das BSG schon 2019 entschieden. Bei solchen Diensten höherer Art ist es so, dass die Weisungsgebundenheit auf ein absolutes Minimum reduziert und nur noch zu einer „funktionsgerechten, dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert sein kann und dennoch gegeben ist.

Nun ging es ja im BSG-Urteil um einen Zahnarzt. Inwieweit ist das relevant für einen Vertragsarzt? 

Die ärztliche und die zahnärztliche Tätigkeit unterscheiden sich inhaltlich. Aber bezüglich dieser maßgebenden Kriterien zur Beurteilung, ob eine unselbstständige Beschäftigung oder eine selbstständige Tätigkeit vorliegt, bestehen keine wesentlichen Unterschiede im Organisationsgefüge. Ein Zahnarzt, der in einer Notdienstpraxis der KZV tätig ist, unterscheidet sich regelmäßig innerhalb dieser Organisationsstruktur nicht von einem Arzt, der in einer KV-Notdienstpraxis tätig ist. 

Handelt es sich bei dem BSG-Urteil  um ein Grundsatzurteil?

Gerichte bezeichnen ihre Urteile nie als Grundsatzurteile. Es kommt immer erst hinterher in der Diskussion auf, dass es sich um ein Urteil handelt, das für viele gleich gelagerte Fälle Geltung beansprucht. In dem Sinne ist das BSG-Urteil schon ein Grundsatzurteil, denn die Notdienstpraxis ist weitgehend beurteilt. Es wurden aber durchaus einige Punkte offengelassen. Das BSG hat sogar in den Entscheidungsgründen darauf hingewiesen, dass nur der konkrete Fall beurteilt wird und andere Konstellationen von der Entscheidung nicht erfasst sein müssen. 

Was ist so ein offener Punkt? 

Eine Frage, die explizit offengelassen wurde, ist zum Beispiel, ob dieses Urteil tatsächlich nur für Pool­ärzte gilt beziehungsweise ob die Teilnahme am Notdienst durch einen niedergelassenen Vertrags(zahn)arzt als selbstständige Tätigkeit angesehen werden muss.

Ist denkbar, niedergelassene Ärzte auf Honorarbasis in Gesundheitskiosken einzusetzen, wenn keine Ärzte fest angestellt werden können?

Gesundheitskioske sind Modellvorhaben, die noch nicht in die Regelversorgung übergegangen sind. Auch hier kann unter Umständen eine abhängige Beschäftigung und damit Sozialversicherungspflicht drohen, wenn pflegerisches und ärztliches Personal in die Organisationsstruktur eingebunden ist, mit den übrigen Festangestellten oder per Minijob beschäftigten Mitarbeitern dieser Einrichtung zusammenarbeitet und keinerlei unternehmerische Risiken hat. Dann wird man wahrscheinlich fragen müssen, warum hier eine selbstständige Tätigkeit vorliegen soll.

Ärztliche Leistungen beim Rettungsdienst sind sozialversicherungsfrei. Wäre das auch für kassenärztliche Notdienste eine Lösung? 

Der Gesetzgeber hat eine Prüfung angekündigt. Ich kann mir vorstellen, dass es unter Berücksichtigung des gesamten Systems und der politischen Diskussion zu einer Befreiung kommt, wie das auch im Rettungsdienst der Fall ist. Denn wenn die Poolärzte jetzt aus der Versorgung wegfallen, weil sie nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt sein wollen oder KVen die zusätzlichen Kosten nicht tragen wollen, dann sind irgendwann Versorgungsprobleme nicht auszuschließen. 

KVen haben Patienten auf Einschränkungen aufgrund der Streichung der Poolarztlösung vorbereitet. Ist die Sicherstellung gefährdet?

Die KVen sind nach § 75 SGB V zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung verpflichtet. Dazu gehört auch der Notdienst. Vertragsärzte, die zum Notdienst herangezogen werden, müssen diesen im Rahmen ihrer vertragsärztlichen Pflichten übernehmen. Mir ist bisher nicht bekannt, dass der Sicherstellungsauftrag nicht mehr erfüllt wird und dass die Einschränkungen regional zu so erheblichen Problemen geführt hätten, dass keine vertragsärztliche Versorgung mehr gewährleistet ist. Aber das ist ein Problem für die Zukunft: Jüngere Ärzte fragen sich, warum sie sich als Vertragsarzt niederlassen sollen, wenn sie neben dem regulären Praxisbetrieb regelmäßig zum Notdienst herangezogen werden.

Wer ist zuständig für eine Lösung des Problems – das Bundesministerium für Arbeit und Soziales?

Ja. Es haben sich nach dem BSG-Urteil Verbände und Politiker verschiedener Parteien dafür ausgesprochen, eine gesetzliche Ausnahme von der Sozialversicherungspflicht für Pool­ärzte zu schaffen, wie es für die notärztliche Tätigkeit im Rettungsdienst erfolgt ist. Eine solche Forderung kam schon im Mai 2023 aus dem Bundesrat und wurde von der Bundesregierung abgelehnt. Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber nun reagiert.  

Mit welchen Fragen wenden sich Poolärzte an Sie?

Es gibt aktuell keine große Welle von Ärzteanfragen, ob jetzt Kündigungsschutzklagen erhoben werden könnten. Fragen bestehen eher dahingehend, ob Poolärzte nun befürchten müssen, irgendwelche Beträge zurückzahlen zu müssen oder ob ein Anspruch auf Weiterbeschäftigung besteht beziehungsweise, weiterhin im Notdienst eingesetzt zu werden. In Zukunft wird voraussichtlich auch die umsatzsteuerliche Behandlung von Honoraren bei der Vertretung im Notdienst eine Rolle spielen.

Wann besteht Klarheit, ob bei den KVen ein Schaden hängen bleibt? 

Die Deutsche Rentenversicherung ist bisher offenbar selbst davon ausgegangen, dass es sich bei dem Einsatz von Poolärzten im Notdienst um eine selbstständige Tätigkeit handelt. Außerdem gab es auch noch andere Konstellationen beim Einsatz von Poolärzten, über die das BSG nicht entschieden hat. Es wird sich also erst nach der Durchführung von Betriebsprüfungen und/oder Statusfeststellungsverfahren im Einzelfall zeigen, ob und in welcher Höhe tatsächlich Sozialversicherungsbeiträge von den KVen nachzuzahlen sind. Einen pauschalen Zeitpunkt kann man hierfür nicht nennen.

Quelle: Medical-Tribune-Interview; BSG-Urteil vom 24.10.2023, Az.: B 12 R 9/21 R

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