Leitlinien brauchen unabhängige Experten
Industrielle Interessen haben bei der Erstellung und Aktualisierung von medizinischen Leitlinien nichts zu suchen“, betont Professor Dr. Thomas Lempert. Der Chefarzt der Neurologie in der Berliner Schlosspark-Klinik ist einer der Initiatoren von Leitlinienwatch, einer Plattform zur Analyse und Bewertung von Einflüssen der Industrie auf Leitlinienautoren.
Die Bilanz von Leitlinienwatch ist ernüchternd. Nur 16 % der insgesamt 169 von der Initiative untersuchten Empfehlungen aus den bei der Arbeitsgemeinschaft Medizinisch-Wissenschaftlicher Fachgesellschaften (AWMF) gelisteten Leitlinien erhielten das Prädikat „gut“. Dagegen ist der Untersuchung zufolge bei 43 % der Empfehlungen die Neutralität gefährdet oder es besteht dringender Reformbedarf (41 %).
Der Untersuchungszeitraum umfasst die Jahre 2014 bis 2017. Bewertet wurden die Transparenz von Interessenkonflikten, die Zusammensetzung der Arbeitsgruppen, die Unabhängigkeit der Experten sowie mögliche Konsequenzen zum Vermeiden von industriellen Interessenkonflikten. Dazu zählen Eigentümerinteressen und Aktien bei Pharmaherstellern, Beraterverträge, Honorare für Vorträge oder andere Aufträge seitens der Industrie, private Partnerbeziehungen zu Mitarbeitern eines Herstellers sowie Forschungstätigkeiten für ein Pharmaunternehmen.
„Gerade die großen Fachgebiete, in denen die Industrie hohe Umsätze generieren kann, wie die Rheumatologie, Neurologie, Diabetologie und Onkologie, sind anfällig für Einflussnahmen“, sagt Prof. Lempert.
AWMF-Anforderungen bilden die Messlatte
Ein schlechtes Urteil erhielt z.B. die S2k-Leitlinie der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) zur Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes im Alter. „Leider bleibt diese wichtige Leitlinie über ein gesundheitsökonomisch hochrelevantes Thema in praktisch allen Bereichen hinter den Anforderungen und Empfehlungen der AWMF zurück“, heißt es in der Begründung von Leitlinienwatch.
Das Risiko einer möglichen Beeinflussung sieht die Initiative aber z.B. auch bei der S3-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge für Patienten mit einer chronisch lymphatischen Leukämie der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie.
Deutlich positiver fallen dagegen i.d.R. die Urteile über Nationale Versorgungsleitlinien aus, die verschärften Qualitätsanforderungen unterliegen, wie etwa die zur chronischen Herzinsuffizienz. Zu den Leitlinien, die von Ärzten am häufigsten herangezogen werden, zählen z.B. die S3-Leitlinien „Prophylaxe der venösen Thromboembolie“, „Behandlung und Prävention von erwachsenen Patienten bei ambulant erworbener Pneumonie“, sowie „Diagnostik und Therapie von Venenthrombose und Lungenembolie“.
„Leitlinien sind ein Füllhorn an Erkenntnissen“
Professor Dr. Rüdiger Landgraf, Mitglied der Leitlinienkommission der DDG, findet die Diskussion über die Unabhängigkeit der Experten problematisch, nicht zuletzt aufgrund des Stellenwerts, den Leitlinien genießen. „Leitlinien sind ein Füllhorn an Erkenntnissen und auch, wenn sie rechtlich nicht verpflichtend sind, sollte ein Arzt im Zweifelsfall gut begründen können, warum er sich nicht an die Empfehlungen gehalten hat.“
Außerdem müssten grundsätzlich alle Mitglieder einer Leitliniengruppen auf rund acht Seiten darlegen, ob mögliche Interessenkonflikte bestehen. Nur wenn sie die Prüfung bestünden, würden sie in das Leitlinienregister der AWMF aufgenommen. „Je mehr Experten an einer Leitlinie mitwirken, umso unwahrscheinlicher ist es zudem, dass eine Meinung dominiert“, so Prof. Landgraf.
Wer macht Leitlinienwatch?
Ehrenamtliche Tätigkeit von rund 2000 Spezialisten
Ob ein Interessenkonflikt problematisch sei, hänge zudem von seiner Ausprägung ab. „Gastvorträge von Experten stellen kein allzu großes Risiko dar“, meint Prof. Kopp. Auch sei abzuwägen zwischen dem Ausmaß eines Interessenkonflikts und dem möglichen Verlust von Expertise. Deutschlandweit stehen geschätzt 2000 Experten als ehrenamtliche Leitlinienautoren zur Verfügung. Die Arbeit ist extrem zeitaufwendig. Das Entwickeln oder Aktualisieren einer Leitlinie dauert von der Idee bis zur Fertigstellung im Schnitt zwischen zwei und vier Jahre. Die Kosten, die vornehmlich von den Fachgesellschaften aufgebracht werden, reichen von 50 000 bis 500 000 Euro. Die im Januar 2018 aktualisierten Empfehlungen der AWMF zum Umgang mit Interessenkonflikten sollen das Qualitätsmanagement weiter verbessern. Die Regeln berücksichtigen auch Forderungen von Leitlinienwatch, indem z.B. Mitglieder der Arbeitsgruppen mit offensichtlichen Interessenkonflikten von den Beratungen oder Entscheidungen ausgeschlossen werden können. Prof. Lempert hält die neuen Regeln der AWMF für einen Schritt in die richtige Richtung. Insbesondere die Bewertung der Interessenkonflikte durch externe Gremien sei ein Fortschritt gegenüber der Selbstbewertung der Autoren. Die Fachgesellschaften sollten sich jedoch künftig verstärkt um unabhängige Experten bemühen, fordert der Neurologe. Auch Professor Dr. Wolf-Dieter Ludwig von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) sieht trotz Fortschritten noch Verbesserungsbedarf. „Hierzulande beruhen die Analysen von Interessenkonflikten auf den freiwilligen Angaben der Autoren von Leitlinien“, sagt der Onkologe. Dies mache eine vollständige Transparenz eher unwahrscheinlich, anders als etwa in den USA, wo jede finanzielle Querverbindung zwischen der Industrie und den Leitlinienautoren über Datenbanken abrufbar sei.Apps mit Leitlinienwissen
Kassen wollen keine Kosten für Autoren übernehmen
Diese lehnen jedoch eine Finanzierung der Leitlinienarbeit ab. Eine unabhängige Vergütung von Autoren sei nicht geeignet, das Ausmaß oder den Einfluss individueller Interessenkonflikte substanziell zu reduzieren, meint der GKV-Spitzenverband. Dagegen hätten die von Leitlinienwatch geforderten Maßnahmen das Potenzial, die Transparenz zu steigern und die Unabhängigkeit der Leitlinien von Interessenkonflikten zu gewährleisten. Sie könnten praktisch ohne zusätzliche Kosten etabliert werden.Medical-Tribune-Recherche