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Führt das Up-Coding zu neuer Bürokratie?

Abrechnung und ärztliche Vergütung Autor: Ruth Bahners

© fotolia/alphaspirit
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Kommen die "Ambulanten Kodierrichtlinien" (AKR) wieder? Wenn es nach dem Willen der Krankenkassen geht, vornehmlich der AOK, sollen die Diagnosen-Vorgaben in Kraft gesetzt werden. Für die Praxen wäre das ein bürokratischer Aufwand, von dem vor allem die Kassen profitierten.

Das Kodieren von Diagnosen nach dem ICD dient nicht nur der ärztlichen Dokumentation, sondern beeinflusst auch die Zuweisungen an die Krankenkassen aus dem Risikostrukturausgleich (RSA). Vereinfacht ausgedrückt, folgen die Zahlungen dem Grundsatz: Je kränker die Versicherten, desto mehr Geld kriegt die Kasse.

Nicht zuletzt durch Zahlerkassen wie die TK sind Strategien der Kassen publik geworden, die die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds systematisch erhöhen. Der Chef der Siemens Betriebskrankenkasse, Hans Unterhuber, ging sogar soweit zu behaupten, dass die Verdoppelung der Ausgaben für adipöse Patienten und die Vervierfachung der Ausgaben für depressive Patienten seit 2011 kein Zufall, "sondern das Ergebnis von Manipulation" sei.

Jüngstes und sicher nicht letztes Beispiel: die AOK Rheinland/Hamburg. Das Bundesversicherungsamt warf der der Kasse "Up-Coding" vor und verlangte 5,6 Mio. Euro zu viel erhaltene Mittel aus dem RSA zurück. Eine Strafe von 1,4 Mio. Euro kam noch oben drauf.

Inzwischen soll die AOK die Forderungen akzeptiert haben. Das bedeute aber nicht, dass sie bei den Diagnosen geschummelt habe, betont die Kasse. Vielmehr habe sie Ärzte, bei denen sie feststellte, dass diese zwar Insulin verordnet, aber nicht die Diagnose "Diabetes" eingetragen hatten, über die Kassenärzt­liche Vereinigung Nordrhein aufgefordert, diese Dia­gnose nachträglich anzugeben. Andernfalls wären die Ärzte in eine Wirtschaftlichkeitsprüfung mit drohendem Regress geraten.

Diagnose kann 632 Euro wert sein – oder 2470 Euro

Das sei kein "Up-Coding", sondern "Right-Coding" und damit nicht geschummelt, meint die AOK, flankiert vom nord­rhein-westfälischen Gesundheitsministerium. Das sieht das Bundesversicherungsamt jedoch anders: Nachträgliche Änderungen seien grundsätzlich nicht zulässig.

Die AOK im Rheinland ist kein Einzelfall. Vorwürfe, wonach die Kassen versuchten, auf die Diagnosekodierung von Ärzten Einfluss zu nehmen, um höhere Zuweisungen zu erhalten, begleiteten den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) schon von Anbeginn, heißt es in einem aktuellen Bericht der Bundesregierung an den Gesundheitsausschuss des Bundestags.

Nicht immer verläuft das Up-Coding jedoch so plump. Es würden Varianten "der Optimierung der ärztlichen Kodierung" gepflegt, heißt es in dem Bericht. Für externe Dienstleister, sog. Kodierberater, sowie im Rahmen von Betreuungsstrukturverträgen, bei denen die Ärzte für ihre Patienten RSA-relevante Krankheiten dokumentieren, werde Provision gezahlt.

Dr. Silke Lüder, Hausärztin in Hamburg und stellvertretende Vorsitzende der Freien Ärzteschaft, sieht in diesen Praktiken eine Einschränkung der Therapiefreiheit, die sie als „Erpressung“ bezeichnet. Denn eine kassengenehme Kodierung werde durchgesetzt nach dem Motto: "Diagnosen nachbessern, sonst Regress."

Und mit Gewinn für die Kasse. Ein Beispiel: "Diabetes n.n.b." bringe der Kasse aus dem Risikostrukturausgleich 632 Euro im Jahr, Diabetes mit Nierenkomplikationen 2470 Euro.

Besonders problematisch sind laut Dr. Lüder die Betreuungsstrukturverträge. Mit diesen würden die Kollegen gegen Entgelt zu bestimmten Diagnosen und Verordnungen verleitet. In ihren Augen ist das "sozialrechtlich legitimierte Korruption". Auch das Bundesversicherungsamt befasst sich kritisch mit den Betreuungsverträgen. In seinem aktuellen Tätigkeitsbericht für 2015 kommt es zu der Einschätzung, dass es Verträge gebe, die indirekt auch auf die Dokumentation bestimmter Diagnosen gerichtet seien.

Dr. Lüder befürchtet, dass die nur ausgesetzten Ambulanten Kodierrichtlinien (AKR) wieder in Kraft gesetzt werden, um den Kassen das lästige Up-Coding zu ersparen. "Damit verschaffen sich die Kassen eine betriebliche Steuerung der Arztentscheidungen", befürchtet Dr. Lüder.

Und nicht nur das. Die Anwendung der AKR würde für einen Hausarzt erhebliche Belastungen mit sich bringen, wie Erfahrungen aus der Erprobungsphase der AKR im Jahr 2010 zeigten. Bei einer 1100 Scheine-Praxis müsse mit Zusatzbelastungen von täglich 30 bis 60 Minuten je Arbeitstag gerechnet werden: je Akut-Patient rund eine Minute zusätzlich pro Konsultation, bei Chronikern etwa zwei Minuten pro Besuch. "Ohne dass die einzelne Praxis profitiert", so Dr. Lüder.

Angesichts dieser bürokratischen Belastung und der Befürchtung von Teilen der Ärzteschaft, dass die Richtlinien anstelle ärztlicher Kompetenz die Diagnose bestimmen, wurde die verbindliche Einführung der AKR von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung 2011 ausgesetzt. Nach einer Anhörung im Bundestag verzichtete auch der Gesetzgeber darauf, im Versorgungsstrukturgesetz die Verpflichtung zur Anwendung der AKR einzuführen.

AOK-Verband fordert einheitliche Kodierrichtlinien

Jetzt taucht die Forderung nach verbindlichen Kodierrichtlinien wieder auf. Martin Litsch, Vorsitzender des AOK-Bundesverbandes, will "die Einführung von verbindlichen, bundeseinheitlichen Kodierrichtlinien für die ambulante Versorgung" als Ad-hoc-Maßnahme zur Lösung des Streits über Manipulationsvorwürfe.

Auch der SPD-Gesundheitsexperte Professor Dr. Karl Lauterbach fordert eine Richtlinie, die "die Kodierung für Ärzte verbindlich regelt". Derzeit gebe es bei der "Erfassung der Diagnosen für die Ärzte große Spielräume", die ausgenutzt würden, sagt er. Die Einführung einer neuen Regelung für Niedergelassene "bedeutet keine zusätzliche Bürokratie, da ja auch heute schon alle Ärzte kodieren müssen".


Quelle: Medical-Tribune-Bericht

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