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Zum Psycho überweisen, darf der Arzt das denn?

Autor: Dr. Robert Oberpeilsteiner

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Es war doch nur ein Überweisungsschein. Aber dieses Stück Papier führte zu einem kaum entwirrbaren innerfamiliären Konflikt, berichtet MT-Kolumnist Dr. Robert Oberpeilsteiner. Doch seine "Praxisperle" löste den Gordischen Knoten.

Es geht nur um einen Überweisungsschein. Nicht um mehr, aber auch nicht um weniger. Eines dieser kleinen bürokratischen Monster im Praxisalltag. Sie sollten als Steuerungssystem fungieren. Wir müssen ja alles steuern. Möglichst intelligent. Autofahrer, Kuhherden und Patienten. Der Überweisungsschein ist ein Navi für den Patienten. Es lotst ihn zu einem Fachkollegen, der all dies, was wir nicht behandeln dürfen, können oder wollen, behandeln darf und kann. Ob er will oder nicht.


Einen Überweisungsschein auszustellen, ist daher eigentlich nicht der Rede wert. Eigentlich. Dieser eine, um den es hier geht, hat aber offenbar meiner Helferin Mathilde die Wochenendruhe geraubt.

"Mathilde gab generös die Verantwortung an mich ab"

„Wir haben doch letzte Woche der Frau Dings einen Überweisungsschein ausgestellt, oder?“ sagt Mathilde am Montagmorgen. Sie sagt es nebenbei. Dabei gießt sie die Praxiskakteen so ausgiebig, dass die Wüstengewächse sich wie Wasserpflanzen vorkommen müssen. Meine Erfahrung sagt mir, wenn Mathilde etwas so nebenbei einfließen lässt, muss ich besonders genau hinhören. Dann ist etwas im Busch.


Bemerkenswert an ihrem unscheinbaren Satz sind schon mal drei Dinge: Erstens, er ist in Frageform gekleidet. Also gibt es irgendwo ein Problem. Zweitens: Mathilde sagt, „wir“ hätten den Ü-Schein ausgestellt, das heißt, sie gibt generös auch Verantwortung an mich ab. Was sie nie freiwillig oder absichtslos praktiziert. Und drittens, diese Frage am Montagmorgen, vor der Sprechstunde, das bedeutet, es gibt ein Problem, das auf der betriebsinternen Dringlichkeitsskala ziemlich weit oben angesiedelt ist.


„Ja, und“, sage ich, zwischen zwei Schluck Cappuccino.
„Ihre Schwiegertochter hat den Überweisungsschein abgeholt,“ sagt Mathilde. „Sie erklärte, ihre Schwiegermutter sei immer so vergesslich und schwindlig werde ihr auch andauernd. Darum wollen sie mit ihr zum Nervenarzt.“ Bevor ich zum dritten Mal „ja und“ sagen kann, fügt sie hinzu. „Daher habe ich einen Überweisungsschein für Neurologie-Psychiatrie ausgestellt.“

"Die Schwiegertochter drängelt wegen der Erbschaft"

„Ja, aber“, frage ich, „wo liegt jetzt eigentlich das Problem?“ „Die Patientin will gar nicht zum Facharzt gehen. Die Schwiegertochter hat ihr das angeblich nur eingeredet.“ „Dann soll sie halt nicht gehen. Dann soll sie daheim bleiben“, grummele ich, etwas ungeduldig. Mathilde sieht mich mit einem Blick an, der alles sagt. Ich habe wieder einmal keine Ahnung. Von Familien im Allgemeinen und Schwiegertöchtern im Besonderen.


Ich frage mich ohnehin, woher Mathilde das alles weiß. Aber wie in der großen Politik, so bekommt man auch in einem kleinen Ort permanent Informationen gesteckt, die man gar nicht wissen will. Frau Dings (bleiben wir der Einfachheit halber bei diesem typisch deutschen Namen) ist mir ganz gut im Gedächtnis. Betagte Rentnerin kommt selten in die Sprechstunde. Ob sie Schwiegertöchter oder Schwiegersöhne hat, weiß ich nicht. Aber das interessiert mich genauso wie die Mannschaftsaufstellung für das nächste Bayern-Heimspiel. Nämlich gar nicht. Mathilde klärt mich also über das Beziehungsgeflecht auf. Da ist die Patientin, die von einem Neurologen oder Psychiater untersucht werden soll. Obwohl die Patientin gar nicht will. Da ist die Schwiegertochter, die dies aber möchte.

"Knackpunkt ist die causa la casa"

Dann ist da noch ein Haus im Spiel, das es zu vererben gibt. Und da sind noch die anderen lieben Anverwandten, denen es nicht passt, wenn die Schwiegertochter zuviel Einfluss auf ihre Schwiegermutter erhält. Wegen der causa la casa. Denn, wenn die Schwiegertochter ein eventuell notwendiges Sorgerecht zugesprochen bekäme ... Jedenfalls ist der Rest der sich liebenden Familienmitglieder strikt gegen den Besuch beim Neurologen.


Und jetzt schimpfen alle, wie kommt der Hausarzt bloß dazu, einen Überweisungsschein auszustellen, wo die Oma/Mutter/Schwiegermutter doch so fit ist. Einer der potenziellen Erben hat ganz empört bei Mathilde angerufen.


Der Cappuccino ist kalt geworden. „Das heißt, wir sind jetzt schuld, wenn das mit der Erbschaft nicht so klappt für die Angehörigen“, sage ich. Mit Wucht bricht die Verantwortung über unsere Praxis herein. Sind wir mit einem sensiblen Steuerungsorgan fahrlässig umgegangen?

"Jetzt geht die ganze Familie zum Psychiater"

„Was hast Du denn dem Anrufer geantwortet?“, frage ich Mathilde.
„Ich habe gesagt, der Überweisungsschein sei ganz wichtig. Denn sicher ist sicher. Gerade im Alter weiß man das nie so genau. Und manche Erkrankungen seien sogar ansteckend oder vererbbar.“


Mathilde lächelt jetzt ihr Mona-Lisa-Lächeln. „Chef, nächste Woche kommt die ganze Familie und alle holen sich Überweisungsscheine für den Psychiater ab.“

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