Defensive Medizin kann verführerisch sein

Gesundheitspolitik Autor: Anke Thomas

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In Umfragen gab jeder zweite Arzt an, dass er eine PSA-Screeninguntersuchung nicht für sinnvoll hält. Dennoch empfahlen drei Viertel dieser Ärzte über 50-jährigen Männern einen PSA-Test. Diese Diskrepanz erklären Schweizer Wissenschaftler anhand des Phänomens der defensiven Medizin.

Ärzte befinden sich regelmäßig im Konflikt: Sollte zum Ausschluss einer gefährlichen Erkrankung besser noch eine zusätzliche Untersuchung durchgeführt werden oder ist das Maß des Guten längst voll? Schließlich lösen unnötige Untersuchungen oder medizinisch nicht indizierte Therapien nicht nur Kosten aus, sondern stellen für Patienten oft auch ein unnötiges Risiko dar.

Ärzte leiten mitunter ohne Überzeugung Therapie ein

Das Phänomen, dass Ärzte Untersuchungen oder Therapien durchführen oder in die Wege leiten, obwohl sie sie nicht für sinnvoll erachten, erklären Professor Dr. Johann Steuer, Horten Zentrum für praxisorientierte Medizin und Wissenstransfer der Universität Zürich, und Professor Dr. jur. Thomas Gächter vom Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich, mit dem Phänomen der defensiven Medizin.

Furcht vor dem möglichen Verlust der Reputation

Vor allem die Angst vor juristischen Konsequenzen treibe Ärzte dazu, z.B. Überdiagnostik zu betreiben, meinen Prof. Steuer und Prof. Gächter.
So sei auch die Empfehlung zum PSA-Screening nachvollziehbar, denn möglicherweise könnte bei dem ein oder anderen Patienten in Zukunft doch ein Prostatakarzinom diagnostiziert werden. Wenn der Arzt diesem Patienten in der Vergangenheit vom Test abgeraten hatte, könnte ihm dies später möglicherweise vorgeworfen werden.

Die Furcht, ins Visier von Patientenanwälten zu geraten, sei aber nicht alleine ein Grund für die (zu vielen) Untersuchungen oder medizinischen Interventionen, so die Schweizer Wissenschaftler*. Folgende weitere Motive könnten ausschlaggebend sein:
 

  • Der Arzt will in der Regel „das Beste“ für den Patienten, also eine korrekte Diagnose stellen und ihm die bestmögliche Therapie verschreiben.
     
  • Der Arzt will auch seine Reputation und das Vertrauen, das der Patient in ihn setzt, nicht verspielen. Schließlich ist es jedem Arzt unangenehm, wenn er auf eine Untersuchung verzichtet und später stellt sich heraus, dass die Untersuchung doch die bessere Entscheidung gewesen wäre.
     
  • Ein Motiv könnte auch das Geld sein. Schließlich lösen manche zusätzlichen Untersuchungen oder Therapien auch zusätzliches Honorar aus.
     

Vermutlich spielen mehrere Gründe gleichzeitig eine Rolle, meinen die Forscher. Mit z.B. einer zusätzlichen Ultraschalluntersuchung oder einer Magnet­resonanztomographie sinkt die diagnostische Unsicherheit, der Arzt sichert sich damit gegen Reputationsverlust und juristische Konsequenzen ab und verbessert dabei eventuell sogar noch sein Einkommen. Prof. Steuer nennt dies eine „verführerische Kombination“.

Die Angst vor juristischen Konsequenzen ist in der Schweiz bei Ärzten durchaus ein Thema, obwohl hier in Prozessen Kollegen selten zur Verantwortung gezogen werden und im Vergleich zu Deutschland deutlich weniger verbindliche Richtlinien vorhanden sind.

Im Gegensatz zur „vorsichtigen Medizin“ wirkt sich die „defensive Medizin“ negativ auf Gesundheitssysteme bzw. im Einzelfall auch auf den Patienten aus. Eine klare Grenze zwischen diesen beiden Strategien zu ziehen, sei in der Praxis nicht möglich und sollte auch nicht mit Hilfe messerscharf formulierter Richtlinien versucht werden, meinen die Professoren.

Offene und vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung

Die Lösung sehen die Wissenschaftler in einer offenen und vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung, die die Diskussion und Abwägung von Nutzen und Risiken zulässt. Ein aufgeklärter Patient würde sich dabei häufig gegen reine defensive Maßnahmen entscheiden, wenn er die Risikoabschätzung des Arztes kenne. Der Patient könne dann abwägen, ob die Maßnahmen für ihn eine sichere Belastung mit lediglich unsicherem medizinischem Nutzen oder ihm einen Vorteil bringen könnte. Wichtig sei bei allem auch, dass der Arzt die Aufklärung und Beratung schriftlich in der Patientenakte dokumentiere.

*„Defensive Medizin – unnötige Medizin?“, Swiss Medical Forum, Ausgabe 37/2015