
Versorgungsreform Ein Appell für den Umbau des SGB V

In Deutschland stirbt rund jeder vierte Bundesbürger an einer Krebserkrankung. Das sind 600 Menschen pro Tag, 220.000 pro Jahr. Sehr viele dieser Todesfälle wären jedoch vermeidbar, sei es durch verbesserte Prävention und Früherkennung, präzisere Diagnostik, rasche Überführung von Therapieinnovationen in die Praxis oder einen bundesweit direkten Zugang zur leitliniengerechten und individuell optimalen Versorgung.
Und trotz des Wissens um immer bessere diagnostische Optionen und wirkungsvolle therapeutische Möglichkeiten leidet die Umsetzung innovativer Versorgungskontinuität unter der nach wie vor fehlenden Überwindung sektoraler, disziplinärer und professioneller Grenzen.
Die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen (DGIV) e. V. hat in einem viel beachteten Gutachten die Regelungssystematik des SGB V zur Identifikation der Sektorentrennungsregelungen in Auftrag gegeben. Hiermit verbunden ist ein Ausblick auf eine fortschrittliche, patientengewandte und sektorenüberwindende Regelungsmechanik.
Von der Fragmentierung zur vernetzten Versorgung – was die moderne Onkologie vom SGB V braucht
Die moderne Onkologie steht vor gewaltigen Herausforderungen: Steigende Morbidität, komplexe Therapieverläufe, chronische Krankheitsverläufe, personalisierte Diagnostik und Therapie (ATMP) und eine zunehmend multimorbide Patientengruppe erfordern eine Versorgung, die über die traditionellen Grenzen zwischen ambulant und stationär hinausgeht. Gleichzeitig ist das deutsche Gesundheitssystem – insbesondere durch die Struktur des SGB V – noch immer in stark sektoralen Denkmustern verhaftet.
Das Gutachten belegt eindrücklich: Die sektorale Trennung im SGB V verhindert nicht nur eine patientenzentrierte, sondern insbesondere eine effiziente onkologische Versorgung.
Onkologische Versorgung: Interdisziplinär, interprofessionell – aber systemisch gehemmt
Krebserkrankungen betreffen nahezu alle Ebenen der medizinischen Versorgung: von der Diagnostik und der Akutbehandlung über die Strahlentherapie, personalisierte Immunonkologie (ATMP-/Zelltherapie) bis hin zur palliativen Versorgung und Nachsorge. Eine sektoral fragmentierte Vergütungssystematik führt dabei regelmäßig zu Brüchen in der Versorgungskette – mit teils drastischen Folgen für die Patientensicherheit, Versorgungsqualität und Effizienz.
Das Gutachten identifiziert insbesondere vier strukturelle Probleme:
- bilaterale Vertragsbeziehungen im SGB V, die sektorspezifisch organisiert sind
- fehlende gesetzliche Verpflichtung zur sektorenübergreifenden Versorgung, insbesondere im onkologischen Kontext
- unzureichende Versorgungssteuerung nach Morbidität, obwohl durch den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (§ 266 SGB V) bereits finanzielle Mittel differenziert an Krankenkassen verteilt werden
- Optionalität von Selektivverträgen (§ 140a SGB V), wodurch eine flächendeckende Umsetzung interdisziplinärer Versorgungsformen ausbleibt
Was muss sich ändern? – Forderungen an die Sozialgesetzgebung
Das Gutachten sowie begleitende Stellungnahmen fordern einen Paradigmenwechsel im Aufbau des SGB V: weg von einer Adressierung einzelner Leistungserbringer, hin zu einer Fokussierung auf konkrete Versorgungsziele. Für die Onkologie bedeutet das:
- Ein eigenes Kapitel für sektorenübergreifende Versorgung onkologischer Patienten im SGB V, das verbindliche Kooperationsstrukturen zwischen Fachärzten, Krankenhäusern, Strahlentherapeuten, Pflegekräften und Palliativdiensten festschreibt
- Modulare Versorgungspfade, die sich an Schweregrad, Tumorentität und Patientenbedürfnissen orientieren und sektorenunabhängig organisiert sind
- Verbindliche Umsetzung sektorenübergreifender Verträge auf Basis bewährter Selektivvertragsmodelle (§ 140a SGB V) – weg von der Beliebigkeit, hin zu struktureller Verpflichtung für alle Krankenkassen
- Neuorganisation der Bedarfsplanung für onkologische Versorgung, die interprofessionelle Kapazitäten wie spezialisierte Pflege, Psychoonkologie oder andere medizinisch sinnstiftende Fachdisziplinen berücksichtigt
- Digital unterstützte Koordination und Dokumentation, um eine lückenlose Kommunikation zwischen den Sektoren sicherzustellen – etwa durch ein zentrales onkologisches Patientenregister mit Zugriffsrechten für alle Behandelnden
Fazit: Das System muss sich an den Patienten anpassen – nicht umgekehrt.
Die Versorgung onkologischer Patienten ist ein Paradebeispiel für die Notwendigkeit eines strukturellen Umbaus der gesetzlichen Krankenversicherung. Was in der Praxis vielerorts längst gelebt wird – sektorübergreifende Tumorboards, interprofessionelle Netzwerke und digitale Fallsteuerung – darf nicht weiter durch gesetzliche Blockaden ausgebremst werden.
Stattdessen braucht es ein modernes, zielorientiertes Versorgungsverständnis, das nicht bei der Zuständigkeitsfrage endet, sondern beim Patienten beginnt. Die Vorschläge des Gutachtens liefern hierfür eine konkrete Blaupause – sie müssen jetzt politisch und in enger Abstimmung mit der Selbstverwaltung umgesetzt werden.
Der Gesetzgeber hat ein so komplexes System geschaffen, dass systematische Fehlorientierungen die Folge sind, die uns handlungsunfähig machen. Hürden, die systematisch durch die Gesetzgebung aufgebaut wurden, sind abzubauen. Wohl wird man das SGB V nicht neu schreiben, aber es ist an der Zeit, es auszumisten und systematisch an Versorgungsnotwendigkeiten zu strukturieren und zu vereinfachen.
An der Grundlogik der Sektorentrennung ändern auch die Krankenhausreform und die Einführung der sogenannten sektorenübergreifenden Versorger nichts. Die Finanzströme werden dadurch nicht anders organisiert und sie werden immer wieder zum Scheitern führen. Auch Ausnahmeregelungen bleiben unübersichtlich. So hat etwa § 115, der dreiseitige Verträge zwischen Krankenkassen, Kliniken und Vertragsärzten regelt, inzwischen schon sehr viele Unterziffern und funktioniert dennoch nicht.
Für die neue Bundesregierung besteht erheblicher Handlungsbedarf.
Quelle:
Vision Zero Magazin Nr.1/25