Medizinerinnen im Patriarchat Frauen in der Medizin: Der lange Kampf um Anerkennung

Gesundheitspolitik Autor: Jan Helfrich

Über Jahrhunderte mussten Ärztinnen in Deutschland gegen Vorurteile, Ausschluss und starre Rollenzuschreibungen kämpfen. Über Jahrhunderte mussten Ärztinnen in Deutschland gegen Vorurteile, Ausschluss und starre Rollenzuschreibungen kämpfen. © Oostendorp/peopleimages.com - stock.adobe.com

Jahrhunderte voller Hürden: Wie Ärztinnen in Deutschland gegen Diskriminierung kämpften und heute die Zukunft der Medizin gestalten. Allerdings ist die Gleichstellung längst nicht erreicht.

Über Jahrhunderte mussten Ärztinnen in Deutschland gegen Vorurteile, Ausschluss und starre Rollenzuschreibungen kämpfen. Der Zugang zum Studium blieb ihnen verwehrt, ihre Fähigkeiten wurden bezweifelt und kleingeredet. Und auch wenn heute rund 70 % der Medizinstudierenden weiblich sind, bleibt Gleichstellung in der Praxis ein fernes Ziel: In Chefetagen dominieren weiterhin Männer, und strukturelle Hürden bremsen Karrieren. Der lange Weg der Ärztinnen ist noch nicht zu Ende.

Von allen wissenschaftlichen Fachrichtungen hat sich die Medizin hierzulande besonders vehement gegen die Zulassung von Frauen gewehrt, so Prof. Dr. Karen Nolte vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Heidelberg. Über Jahrhunderte hinweg wurden zahlreiche Argumente vorgebracht, weshalb Frauen angeblich ungeeignet für ein Medizinstudium seien – z. B. wegen ihrer vermeintlich schwachen Körper oder aufgrund ihrer „weiblichen Nervosität“.

Dorothea Christiane Erxleben

Im 18. Jahrhundert machte Dorothea Christiane Erxleben einen ersten entscheidenden Schritt auf dem Weg der Frauen in die Medizin: 1754 durfte sie unter Sonderbedingungen in Halle ihre Promotion ablegen, lange bevor die ersten Frauen regulär in der Schweiz oder den USA zum Medizinstudium zugelassen wurden. Sie lebte von 1715 bis 1762 und wurde in eine Ärztefamilie in Quedlinburg geboren. Erxleben zeigte früh Interesse an der Medizin, erhielt jedoch nur eingeschränkten Zugang zu Bildung. Ihr Vater unterrichtete sie gemeinsam mit ihrem Bruder in Naturwissenschaften sowie praktischer und theoretischer Medizin. Ab ihrem 16. Lebensjahr wurde sie von ihrem Vater mit zu seinen Patientinnen und Patienten genommen. Bald darauf ließ er sich von ihr in der Praxis vertreten. 

Trotz ihres breiten medizinischen Wissens blieb ihr der Zugang zur Universität verwehrt. Daraufhin wandte sie sich an Friedrich den Großen, der 1741 die Universität Halle anwies, Erxleben zur Promotion und zum medizinischen Universitätsexamen zuzulassen. Aufgrund von Krieg und Mutterschaft konnte sie diese Gelegenheit jedoch nicht wahrnehmen. 

Nach dem Tod ihres Vaters übernahm Erxleben 1747 dessen Praxis. Doch als eine ihrer Patientinnen während der Behandlung starb, wurde sie von anderen Ärzten wegen Pfuscherei angezeigt. Gegen diese Entscheidung protestierte sie mit Erfolg. 1754 durfte Erxleben ihre Doktorarbeit einreichen und erhielt die Promotion mit Bestnote.

Franziska Tiburtius

Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich eine weitere mutige Frau für die Frauenbewegung und das Frauenstudium ein: Franziska Tiburtius lebte von 1843 bis 1927 und entschloss sich erst mit 33 Jahren, Medizin zu studieren – eine ungewöhnliche Entscheidung für eine Frau ihrer Zeit. Da Frauen in Deutschland zu dem Zeitpunkt nicht zum Studium zugelassen waren, zog Tiburtius in die Schweiz, wo es Frauen seit 1865 erlaubt war, Medizin zu studieren. 1876 promovierte sie trotz großer Widerstände von Professoren und Kommilitonen mit der Note „sehr gut“ zum Doktor der Medizin. 

Sie ging als Volontärsärztin nach Leipzig und anschließend an die Königliche Entbindungsanstalt in Dresden. Trotz der in Zürich erteilten Berufszulassung erhielt sie in Dresden jedoch keine Approbation, worauf sie 1878 nach Berlin ging. An der Charité wurde Tiburtius Mitbegründerin und leitende Ärztin an der Poliklinik für Frauen. Im gleichen Jahr eröffnete sie in Berlin eine Arztpraxis. Als erste deutsche Ärztin mit eigener Praxis sah sie sich jahrelang öffentlichen Anfeindungen und Vorbehalten der männlichen Ärzteschaft ausgesetzt.

Sie durfte zwar praktizieren, jedoch musste sie sich als „Dr. med. in Zürich“ ausweisen, wonach sie dem Status nach Heilpraktikerin war. Mit einer weiteren Ärztin eröffnete Tiburtius 1908 die Chirurgische Klinik weiblicher Ärzte. In dieser Poliklinik wurden insbesondere Frauen aufgenommen, die keiner Krankenkasse angehörten. An Bedürftige wurde dort kostenlos Arznei ausgegeben.

Rahel Hirsch

Anfang des 20. Jahrhunderts gelang es Rahel Hirsch, als erste Ärztin in Preußen zur Professorin ernannt zu werden. Sie lebte von 1870 bis 1953 und stammte aus einer Rabbinerfamilie. Sie arbeitete zunächst jahrelang als Lehrerin. Da es Frauen 1899 in Deutschland nicht möglich war, Medizin zu studieren, begab sich Hirsch nach Zürich und erhielt 1903 den medizinischen Doktorgrad.

Sie arbeitete anschließend als Assistenzärztin in der medizinischen Klinik der Berliner Charité und war damit die zweite angestellte Ärztin in der Geschichte des Krankenhauses. 

1906 wies Hirsch das Vorkommen von Stärkekörnern in Blut und Urin nach. Das war eine Entdeckung, die lange in Vergessenheit geraten war, erst seit 1957 Anerkennung fand und in die Literatur als „Hirsch-Effekt“ einging. Ab 1908 leitete Rahel Hirsch die Poliklinik. 1913 erhielt sie als erste Ärztin in Preußen den Titel „Professor“, doch damit war keine Lehrerlaubnis verbunden. Hirsch gründete 1928 ihre eigene Praxis, stattete sie mit modernsten Röntgengeräten aus und nutzte die Möglichkeiten der Strahlenmedizin. Außerdem engagierte sie sich für eine geschlechtsspezifische gesundheitliche Beratung. Sie war zudem Verfechterin der körperlichen Betätigung von Frauen, was sie in ihrem Buch „Körperkultur der Frau“ zum Ausdruck brachte. 

Infolge der Machtübernahme durch das NS-Regime wurde Hirsch als Jüdin die Kassenzulassung entzogen und sie durfte nur noch jüdische Patientinnen und Patienten behandeln. 1938 gab sie schließlich ihre Praxis auf und emigrierte nach London, wo eine ihrer Schwestern lebte.

Ingeborg Rapoport

Mitte des 20. Jahrhunderts revolutionierte die Kinderärztin Ingeborg Rapoport die Neugeborenenmedizin. Sie lebte von 1912 bis 2017 und wuchs in Hamburg auf, wo sie Medizin studierte und 1937 ihr Staatsexamen ablegte. Sie schrieb dort auch ihre Dissertation – eine experimentelle Arbeit über Diphtherie. Der Doktortitel wurde ihr allerdings aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verweigert. 

Kurz vor der Reichspogromnacht 1938 emigrierte Rapoport in die USA. Weil ihr Staatsexamen auch dort nicht anerkannt wurde, studierte sie zwei Jahre lang am Women’s Medical College of Pennsylvania in Philadelphia, arbeitete in verschiedenen Krankenhäusern, erwarb schließlich den Medical Doctor und spezialisierte sich auf die Pädiatrie.

Doch auch die Vereinigten Staaten musste die Ärztin wegen ihrer Leidenschaft für den Kommunismus verlassen und zog mit ihrer Familie in die DDR. 1952 begann sie, an der Charité in Berlin zu arbeiten. Ab 1958 leitete sie dort die Säuglings- und Frühgeborenenstation, aus der sie allmählich eine Abteilung für Neugeborenenheilkunde entwickelte.

Ab 1964 erhielt sie zunächst die Professur für Pädiatrie und 1969 dann den europaweit ersten Lehrstuhl für Neonatologie. Bis zu ihrer Emeritierung 1973 entwickelte Rapoport ihre Abteilung inhaltlich und strukturell mit dem Neuaufbau einer Station für Neugeborenen-Intensivtherapie und einer Forschungsabteilung weiter.

Im Mai 2015 verteidigte sie vor drei Professoren der Universität Hamburg erfolgreich ihre Doktorarbeit von 1938 und bekam 77 Jahre nach dem Verbot durch die Nationalsozialisten ihre Promotionsurkunde überreicht. Mit ihren damals 102 Jahren war sie einer der ältesten Menschen, der jemals ein Promotionsverfahren abgeschlossen hat.

Mildred Scheel

Ende des 20. Jahrhunderts gründete Mildred Scheel die Deutsche Krebshilfe und brachte die Krankheit in den Fokus der Öffentlichkeit. Sie lebte von 1931 bis 1985 und begleitete bereits als Kind ihren Vater, einen angesehenen Arzt, in seine Praxis. Mit 14 Jahren sammelte sie während des Zweiten Weltkriegs erste medizinische Erfahrung bei der Versorgung verletzter Flüchtlinge. Ursprünglich wollte sie die Praxis ihres Vaters nach dem Medizinstudium übernehmen, doch dessen plötzlicher Herztod machte diesen Wunsch zunichte.

Als ihr Mann Walter Scheel 1974 zum Bundespräsidenten gewählt wurde, übernahm Scheel die Pflichten der „First Lady“. Dazu gehörte auch, dass sie sich für eine soziale Aufgabe einsetzte. Das war der Zeitpunkt, an dem sie an ihre früheren Jahre anknüpfte, in denen sie als Röntgenfachärztin während ihrer Berufstätigkeit mit dem Leiden von Krebskranken konfrontiert war. Sie gründete im gleichen Jahr die Deutsche Krebshilfe und trug als deren Präsidentin dazu bei, dass sich Prävention und Behandlung von Krebs sowie die Forschung verbesserten.

Lange Zeit war Krebs in der Gesellschaft ein Tabuthema, eine Krankheit, über die Betroffene und Angehörige schwiegen. Scheel brach dieses Tabu. Selbst Staatsbesuche nutzte sie dafür: 1975 ließ sie sich in Moskau von den Repräsentanten der damaligen Sowjetunion Autogramme geben, die für den wohltätigen Zweck versteigert wurden.

Frühe Ärztinnen wie Dorothea Erxleben im 18. Jahrhundert blieben Ausnahmen. In diesen Zeiten fanden Frauen meist nur Zugang zur Medizin, wenn sie in eine Familie von Gelehrten geboren wurden. Für die Mehrzahl von ihnen blieb es damals traurige Realität, dass der universitäre Raum über lange Zeit strikt männlich geprägt war und sich Frauen ihre Teilnahme daran mühsam Schritt für Schritt erkämpfen mussten.

Besonders der Zugang zum Fach Anatomie war ein großes Hindernis für Frauen im Studium. Professoren weigerten sich, männliche und weibliche Studierende gemeinsam zu unterrichten, weshalb Studentinnen oft auf minderwertige Sonderkurse verwiesen und in abgelegene Räume verbannt wurden. Auch wissenschaftliche Begründungen, die zu dieser Zeit Standard waren, wie die vermeintliche Unterlegenheit von Frauen aufgrund von kleineren Schädel- oder Hirngrößen, dienten als Argumentationsbasis für ihren Ausschluss. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein war es Frauen in Deutschland kaum möglich, ein Studium mit einer regulären Approbation abzuschließen. Viele wichen deshalb auf Universitäten in der Schweiz aus und führten in ihren Titeln z. B. den Zusatz „Dr. med. Zürich“.

Frauen argumentierten mit ihrer „Nützlichkeit“ 

Um sich in der männlich dominierten Welt zu behaupten, griffen Frauen auf unterschiedliche Strategien zurück. In Deutschland argumentierten sie häufig mit ihrer „Nützlichkeit“: Frauen sollten Ärztinnen werden, da ihre fürsorglichen Eigenschaften mit dem Beruf harmonierten. Diese Argumentation verschaffte ihnen zwar Zugänge, stärkte jedoch gleichzeitig stereotypische Rollenzuschreibungen und führte dazu, dass Frauen lange Zeit auf bestimmte Fachbereiche, wie z. B. Pädiatrie oder Gynäkologie, verwiesen wurden, erklärt Prof. Nolte. In angelsächsischen Ländern argumentierten die Frauen hingegen stärker mit dem Naturrecht – also der Gleichheit von Frauen und Männern.

Erst mit den gesellschaftlichen Umbrüchen der 1960er- und 1970er-Jahre sowie der zweiten Frauenbewegung kam es zu einer spürbaren Öffnung der Universitäten in Deutschland. Das bedeutete jedoch nicht, dass Frauen automatisch gleichgestellt waren, sondern vielmehr, dass nun auch verstärkt Menschen aus bürgerlichen Familien studieren konnten. Frauen profitierten davon nur gering. Einen entscheidenden Schub brachten aber ab den 1990er-Jahren die Frauenförderprogramme, die in dieser Zeit in größerem Umfang etabliert wurden.
Heute liegt der Anteil der Studentinnen in der Humanmedizin bei rund 70 %. Dennoch spiegeln sich diese Zahlen nicht in den Spitzenpositionen wider: Chefärztinnen sind weiterhin sehr selten, selbst in Fächern wie Gynäkologie oder Pädiatrie. Neben strukturellen Barrieren spielt häufig die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine zentrale Rolle. Doch neue Modelle wie Teilzeitarbeit in Leitungspositionen oder eine stärkere Verzahnung von Klinik und Kinderbetreuung könnten zukünftig positive Veränderungen bewirken.

Gleichzeitig wirkt auch der zunehmende Fachkräftemangel als Motor für mehr Gleichstellung: Die Medizin kann es sich nicht leisten, hochqualifizierte Ärztinnen weiter auszuschließen. Dennoch bleibt ein kritischer Aspekt bestehen: Historisch hat sich gezeigt, dass Frauen erst dann Zugang zu bestimmten Berufen gewährt wurde, wenn deren gesellschaftliches Ansehen sank. Damit sich diese Geschichte nicht wiederholt, braucht es echte Teilhabe auf allen Ebenen. Dementsprechend wird es für die Medizin entscheidend sein, Gleichstellung nicht als Notlösung, sondern als selbstverständliche Voraussetzung für exzellente medizinische Arbeit zu begreifen, mahnt Prof. Nolte.

Quelle: Medical-Tribune-Bericht