Allgemeinmedizin 1966–2016 Hausarztmedizin rettet Leben

Für Roberts, Professor für Familienmedizin an der Universität Wisconsin, steht fest, dass es kein funktionierendes Gesundheitssystem geben könne, das nicht auf einer zentralen Rolle der Hausarztmedizin aufbaut, im Englischen auch als „primary health care“ bezeichnet. Er verweist dabei auch auf die Weltgesundheitsorganisation WHO, die bereits im Jahr 2008 feststellte, dass die Hausarztmedizin den besten Weg darstelle, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen, wie die globale Ausbreitung ungesunder Lebensweisen oder die Alterung der Bevölkerung.
Entzauberte Mythen
Den Fokus seines Vortrags legte Roberts dann darauf, mit Mythen aufzuräumen, die das Verhältnis von Hausarztmedizin und Spezialistenmedizin betreffen. Diese Mythen lauten:
1. Spezialistenmedizin ist besser als Hausarztmedizin.
2. Spezialistenmedizin ist komplex, Hausarztmedizin dagegen simpel.
Um den Mythos 1 zu entzaubern, legte Roberts eine Studie aus dem Jahr 1997 vor. Darin waren die Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben in verschiedenen Ländern mit dem Grad der primärärztlichen Versorgung ins Verhältnis gesetzt worden. Das Ergebnis: Je besser die Primärarztschiene ausgebildet war, umso geringer fielen die Gesundheitsausgaben aus (vgl. Abb. 1 ).
Die niedrigsten Ausgaben wiesen Länder wie Großbritannien, Spanien und die skandinavischen Staaten auf, die über einen hohen primärärztlichen Anteil an der medizinischen Versorgung verfügen. Deutschland rangierte hier eher auf den hinteren Plätzen, die höchsten Pro-Kopf-Ausgaben verzeichneten die USA.
Allgemeinmedizin ist Garant für eine bessere Gesundheitsversorgung
Aber ist eine kostengünstigere Medizin nicht womöglich auch eine schlechtere Medizin? Keineswegs, so Roberts, und belegte dies mit Zahlen, die zeigten, dass jene Länder mit einer starken primärärztlichen Versorgung sogar eher besser abschnitten, was die gesundheitsbezogenen Outcomes betrifft (Abb. 2). Bestätigt werde dies durch eine Erhebung aus dem Jahr 2003, bei der über einen Zeitraum von 30 Jahren die Raten für vorzeitige Todesfälle in 18 OECD-Ländern mit schwacher oder starker primärärztlicher Versorgung verglichen worden waren. Die Länder mit einer gut ausgebauten Allgemeinmedizin hatten auch hier die Nase vorn (Abb. 3). Für Roberts ist damit klar, dass die Spezialistenmedizin keineswegs besser ist als die Hausarztmedizin. Ganz im Gegenteil sorge eine starke Allgemeinmedizin für eine bessere Gesundheitsversorgung und spare dabei noch Kosten. Unterstrichen werde dies auch durch eine Studie aus dem Jahr 2003, in der die Zahl der Hausärzte bzw. Spezialisten mit der Mortalität ins Verhältnis gesetzt worden war. Und siehe da: Pro einem Hausarzt mehr je 10 000 Patienten zusätzlich nahm die Sterblichkeit pro 100 000 Einwohner um 9 % ab. Bei einem Spezialisten zusätzlich aber stieg sie um 2 %.
Hausarztmedizin ist hoch komplex …
Und wie ist es nun aber um den Mythos Nummer 2 bestellt, wonach die Hausarztmedizin doch eher einfach gestrickt und in der täglichen Praxis von der Evidenz-basierten Wissenschaftlichkeit weit entfernt sei? Auch diesen verweist Roberts ins Reich der Legenden. Wobei er zunächst einmal infrage stellt, ob es mit der viel gerühmten Evidenz in der Spezialmedizin überhaupt so weit her ist. Roberts greift dazu auf eine Untersuchung aus dem Jahr 2005 zurück, bei der 49 häufig zitierte Studien analysiert wurden, in denen eine getestete Intervention als erfolgreich beurteilt worden war. Das Ergebnis war eher ernüchternd: Weniger als die Hälfte der Studienergebnisse ließen sich später replizieren, bei 16 % fanden Folgestudien geringere oder sogar gegenteilige Effekte. Aus schlechter Wissenschaft werden dann noch schlechtere Leitlinien, lautet Roberts Fazit. Hinzu komme, dass solche Studien in der Regel in akademischen Zentren mit ganz anderen Patienten durchgeführt würden, als sie in der Hausarztpraxis anzutreffen seien. Allein deshalb seien die Studienergebnisse nicht ohne Weiteres auf die Hausarztmedizin übertragbar.
Patienten in der Hausarztpraxis seien zudem oft sehr komplexe Fälle. Bei einem Hausarztbesuch würden im Schnitt zwischen 3 und 8 Gesundheitsprobleme besprochen. Und während zum Spezialisten 90 % der Patienten mit 5 Top-Diagnosen kommen, könne der Hausarzt selbst mit 25 Top-Diagnosen maximal 60 % seines Patientenklientels abdecken.
… und basiert auch auf einer guten Arzt-Patienten-Beziehung
Außerdem seien Hausarztpatienten häufig alt und komorbide. 40 % weisen mehrere Erkrankungen auf, so Roberts, bei den über 65-Jährigen habe jeder zweite mindestens 3 chronische Leiden, ein Fünftel klage sogar über deren 5. Die Komplexität der Anforderungen sei damit bei Hausärzten deutlich höher als bei Spezialisten. Und schließlich gehe es bei Hausärzten nicht nur um die Krankheit als solche, sondern vor allem auch um den Menschen mit seiner Erkrankung. Hausarztmedizin beinhalte eine umfassende Betreuung. Letztlich seien die Zeit, die der Hausarzt seinen Patienten widmet, und der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung die wichtigsten diagnostischen und therapeutischen Werkzeuge der Hausarztmedizin. Deshalb, so Roberts, sollte sich jeder Hausarzt immer die folgenden Fragen stellen: Kenne ich meine Patienten? Können sie in einfacher Weise mit mir Kontakt aufnehmen? Bleibe ich involviert, egal welches Problem sie haben? Stelle ich ihnen meine umfassende Betreuung zur Verfügung und kann ich das auch leisten? Und: Verdiene ich ihr Vertrauen?
Dr. Ingolf Dürr (basierend auf der Präsentation von Dr. Roberts)
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (20) Seite 26-30
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.