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Herr Doktor, wie lange machen Sie’s noch?

Autor: Dr. Jörg Vogel

Für Ärzte lauern an jeder Ecke Gesundheitsgefahren und Aufreger. Für Ärzte lauern an jeder Ecke Gesundheitsgefahren und Aufreger. © iStock.com/Ирина Мещерякова
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Das Thema in unserer Praxiskolumne: Das Alter und Krankheiten machen selbst vor Ärzten nicht halt. Schlimmer noch, wenn man ständig von allen Seiten darauf aufmerksam gemacht wird, findet unser Kolumnist Herr Dr. Vogel.

Seit einigen Wochen werde ich zunehmend von den Patienten gefragt: „Herr Doktor, wie lange machen Sie noch?“ Das gibt mir zu denken. Glaubte ich doch, mich mit meinen achtundfünfzig Jahren, dem Sport und der gesunden Ernährung bisher prima gehalten zu haben.

Gut, es stört mich schon, wenn ich auf irgendeiner Internetseite mein Alter angeben soll und auf der Skala dann ewig nach unten scrollen muss, bis ich endlich mal das Jahr 1960 gefunden habe. Vom Gefühl her ist das eine „Scroll-Tortur“ ins Jahr 1860. Das gefällt mir natürlich überhaupt nicht! Aber ha, was zählt schon so eine blöde Skala?

Woran mag es aber nun liegen, dass mir so viele besorgte Leute dieselbe Frage stellen? Erstens vielleicht daran, dass vor Kurzem eine Zeitungsmeldung erschien. Die besagte, dass ein Großteil der Babyboomer-Generation gar nicht daran denkt, bis zum regulären Rentenalter zu arbeiten, sondern lieber vorzeitig in den Ruhestand verduften möchte. Dies wiederum dürfte weniger dadurch bedingt sein, dass uns die Aufzucht und Hege der geboomten Babys geschlaucht hat (ich habe selbst auch drei Kinder großgezogen, war also einst sozusagen furchtbar fruchtbar).

Vielmehr geht es vielen Leuten wahrscheinlich finanziell besser. Und es gibt ein wesentlich größeres Freizeit- und Reiseangebot, wenn ich nur an die boomenden Kreuzfahrten denke. Das lässt sie frohlocken: Lieber Feste feiern und reisen als feste arbeiten und hierbleiben müssen!

Zweitens denken aber vielleicht doch einige, dass ich als ihr Hausarzt wirklich schon so alt bin und tatsächlich demnächst in Rente gehe. Oh Gott! Das würde ja bedeuten, ich wäre in den letzten Jahren bedeutend vorgealtert! Machen wir es kurz: Ich vermute, dass Ersteres zutrifft!

Allerdings gibt es z.B. an Grippe-Montagen durchaus Grund zum Voraltern. Bei den (überwiegend jugendlichen) sechsundfünfzig Patienten an einem Montagvormittag im März konnte ich bei rund der Hälfte nichts mehr abrechnen. Sie waren bereits im Januar/Februar hier. Somit war der Komplex für Nichtchroniker verbraucht.

Obwohl man das weiß, ist es doch immer wieder deprimierend, diesen Leuten die Behandlung regelrecht zu schenken, nebst Arbeitsbefreiung für eine Woche („… aber dann bitte gleich bis nächsten Sonntag, Herr Doktor, sonst müsste ich da schon wieder arbeiten!“).

Man muss sich das mal vor Augen führen: Mein Sprechzimmer misst drei mal vier Meter. Wenn da einer richtig loshustet und prustet (und das tun viele, schon um zu beweisen, wie erkältet sie wirklich sind – sogenannte „Stoßbläser“), stehe ich in einer Bronchitiswolke und muss dabei irgendwie gesund bleiben. Man trägt somit als Arzt seine Haut zu Markte – für nichts! So kann es durchaus sein, dass man eben doch voraltert.

Und wenn man sich dann angesteckt hat, also selbst krank ist und trotzdem in der Praxis schuftet, weil man diese vielen Menschen einfach nicht dem Nachbarkollegen in Vertretung zumuten möchte, dann kommt sie manchmal, die „Frage des Verderbens“ vom Patienten: „Herr Doktor, wie lange machen Sie’s noch?“ Ich warte dann ungeduldig, ob er sich nicht doch versprochen hat. Aber meistens kommt nichts mehr. So sage ich resigniert: „Keine Angst. Solange Sie Ihre Krankschreibung von mir brauchen, halte ich noch durch!“

Allerdings, so sicher ist das gar nicht. Gestern kam nämlich wieder einmal ein Regressbescheid hereingeflattert. Dieses Mal von meinem „Hausarztvertragspartner“ Knappschaft. Lumpige 1218 Euro wollen sie zurück, weil ich eine Patientin 2015/16 mittels einer Off-Label-Therapie schmerzarm gemacht habe. Ich wusste mir damals keinen anderen Rat und konnte nicht Nein sagen. Aber alle Argumente samt Vertragspartnerschaft halfen nichts: Ich muss blechen! Vielleicht ist die Frage „Herr Doktor, wie lange machen Sie noch?“ doch ganz berechtigt.

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