
Medizin studieren ohne Spitzenabitur Landarztquote: Sozialkompetenz und Landarzt-Pflicht als Tür zum Hörsaal

Frau Hagelüken, wie sah ihre berufliche Laufbahn bisher aus?
Ich habe 2017 Abitur gemacht. Während der Schulzeit wusste ich schon, dass ich auf jeden Fall in den medizinischen Bereich möchte. Für ein Medizinstudium hätte ich wegen des NC von 1,0 allerdings Wartesemester sammeln müssen. Eine direkte berufliche Alternative war mir lieber, deswegen habe ich eine Physiotherapieausbildung in Detmold gemacht. Danach bin ich für ein halbes Jahr in die Pflege gegangen, weil eine Bekannte von mir einen Unfall hatte und ich sie betreut habe. Jetzt arbeite ich in der Physiotherapie-Praxis, in die ich sie immer gebracht habe. Der Schwerpunkt liegt auf Neurologie und Trainingstherapie.
Wie kam es, dass Sie nun über die Landarztquote Medizin studieren?
Eine Patientin hat mir von der Möglichkeit erzählt. Wir haben darüber gesprochen, dass ich eigentlich gerne Medizin studiert hätte. Sie hat mir neckisch gesagt, dass man dafür nie zu alt ist. Sie selbst hat trotz ihrer Erkrankung mit 46 noch Jura studiert. Das war der letzte Funken, der gefehlt hat. Ich habe die Sachen für die Bewerbung zusammengesucht und sie abgeschickt.
Das Auswahlverfahren bei der Landarztquote unterscheidet sich grundlegend vom üblichen Weg ins Medizinstudium. Neben bisherigen Abschlüssen werden auch die sozial-kommunikativen Fähigkeiten bewertet, oft in Szenario-Trainings. Wie sah die Prüfung bei Ihnen aus?
Darüber darf ich nicht reden, weil die Prüfungsdetails nicht bekannt werden sollen. Nur so viel: Es ist interaktiv und man wird dabei beobachtet, wie man in bestimmten Situationen reagiert. Mit Medizin hat es nicht direkt zu tun. Es war auf jeden Fall eine sehr interessante Erfahrung, die ich in dieser Form noch nicht gemacht habe (lacht). Anhand welcher Kriterien wir letztlich genau bewertet wurden, haben wir leider nicht erfahren.
Meinen Sie, es sollten alle angehenden Medizinstudierenden auf ihre sozialen und kommunikativen Fähigkeiten hin geprüft werden?
Ja, ich denke schon. Man merkt, dass Ärztinnen und Ärzte ganz anders auf ihr Gegenüber eingehen, wenn sie vorher in einem anderen medizinischen Beruf tätig waren, zum Beispiel als Rettungssanitäterinnen oder -sanitäter. Wir arbeiten in der Physiotherapie ja viel mit Ärztinnen und Ärzten zusammen. Einige sind fachlich wahnsinnig gut, aber die Empathie, wenn jemand eine schlimme Diagnose bekommt, ist manchmal gleich null. Das sollte man schon anders kommunizieren können.
Die Landarztquote wird oft dafür kritisiert, dass sie junge Menschen dazu zwingt, sich auf eine Zukunft festzulegen, die in weiter Ferne liegt. Nach ihrer Weiterbildung müssen sie zehn Jahre lang hausärztlich in einer unterversorgten Region arbeiten. Hat Ihnen das Sorge bereitet?
Ich hatte keinerlei Sorge, an diese Frist gebunden zu sein. Ich weiß genau, dass ich nicht im Krankenhaus arbeiten möchte, weil sich Beruf und Privates dort nicht gut vereinbaren lassen. Ich ziehe meinen Hut vor den Leuten, die diese Dauerbelastung suchen. Bei einer Praxis weiß ich, dass sie feste Öffnungszeiten hat. Außerdem gefällt mir der Gedanke, später eventuell hausärztlich in dem Umfeld tätig zu sein, in dem ich schon immer gelebt habe. Vielleicht stehen dann wieder die Patientinnen und Patienten vor mir, die ich durch die Physiotherapie schon kenne.
Könnten Sie es sich vorstellen, später eine eigene Praxis zu führen oder möchten Sie lieber in die Anstellung?
Eine Einzelpraxis möchte ich jedenfalls nicht sofort nach der Weiterbildung führen, das wären mir zu viele Unsicherheiten. Ich könnte mir aber vorstellen, in eine Praxis einzusteigen, die schon einige Jahre existiert. Dann hätte ich eine Ansprechpartnerin oder einen Ansprechpartner mit beruflicher Erfahrung und ein tolles Team von Medizinischen Fachangestellten. Eine Anstellung in einer Praxis könnte ich mir auch vorstellen.
Im Oktober starten Sie in Ihr erstes Semester. Wie blicken Sie dem Studium entgegen?
Ich bin total optimistisch und habe richtig Lust darauf. Hemmung oder Skepsis habe ich nicht. Klar, es wird bestimmt noch mal viel. Aber ich habe auch nach meiner Ausbildung nie aufgehört, zu lernen, sondern mich weiter fortgebildet, z.B. in Pferde-Osteopathie. Daher habe ich nicht das Gefühl, dass ich raus bin, und glaube, wenn man das wirklich möchte, dann schafft man das auch.
Hilft die Berufserfahrung, um gelassener in dieses besonders anstrengende Studienfach zu starten?
Ich glaube schon. Das Abitur war verglichen mit meinem Staatsexamen in der Physiotherapie ein Geschenk. Es war vom Leistungsdruck her etwas ganz anderes – und auch die Reife macht einen Unterschied. Mit 27 Jahren hat man eine andere Grundlage und vielleicht auch ein anderes Umfeld als direkt nach dem Abitur. Ich weiß genau, dass meine Familie und mein Mann mir Rückhalt geben. Daher bin ich entspannt.
Interview: Isabel Aulehla
Eine Maßnahme mit zögerlicher Wirkung
Mittlerweile nutzen elf Bundesländer eine Landarztquote zur Stärkung der hausärztlichen Versorgung. Den Anfang machte 2019 Nordrhein-Westfalen, wo mittlerweile 951 Personen über diese Regelung in das Medizinstudium eingeschrieben sind. Die Betreffenden verpflichten sich vorab dazu, nach ihrer Weiterbildung zehn Jahre lang hausärztlich in Regionen zu arbeiten, die entweder unterversorgt oder von Unterversorgung bedroht sind. Bei Vertragsbruch drohen bis zu 250.000 Euro Strafe.
Bis die Studierenden in NRW diese Verpflichtung antreten, dauert es allerdings noch. Im kommenden Jahr starten die ersten Absolventinnen und Absolventen zunächst in die Weiterbildung.
Insgesamt werden in NRW pro Jahr rund 190 Studienplätze über die Landarztquote vergeben, 8 % der Medizinstudienplätze. Der Bedarf ist dringend: Mehr als die Hälfte der 11.000 Hausärztinnen und Hausärzte im Bundesland sei über 55 Jahre alt, erklärt Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann. „Hier gibt es also einen erheblichen Nachbesetzungsbedarf.“
Allerdings kommt die Quote nicht in allen Bundesländern so gut an wie erhofft. In Niedersachsen ging die Zahl der Bewerbungen in den letzten drei Jahren beispielsweise von 299 auf 204 zurück. Da nur 60 Studienplätze über die Quote vergeben werden, ist man bislang zwar dennoch zufrieden. Allerdings haben sich nicht immer auch alle 60 ausgewählten Personen tatsächlich eingeschrieben.
Ob die Landarztquote die richtige Lösung ist, um dem Hausärztemangel auf dem Land zu begegnen, bleibt umstritten. Der Hartmannbund und verschiedene Vertretungen der Medizinstudierenden weisen darauf hin, dass die Effekte erst 10–15 Jahre nach Studiumsbeginn greifen. Sinnvoller sei es daher, fortgeschrittene Studierende anzusprechen, die bereits Interesse an der Arbeit auf dem Land gezeigt haben. Zudem wird angezweifelt, ob junge Bewerberinnen und Bewerber bereits ausreichenden Einblick in den Beruf haben, um sich bei hoher Konventionalstrafe zu dessen langjähriger Ausübung verpflichten zu können. Der Medizinische Fakultätentag fordert derweil eine bundeseinheitliche wissenschaftliche Untersuchung mit klaren zielorientierten Outcome-Parametern, wie Studienerfolg, Studiendauer, Studienabbruchquoten und Parametern, die sich auf die spätere ärztliche Tätigkeit beziehen.