Gesundheitsungleichheit Sozioökonomische Ungleichheit in der Krebsinzidenz in Deutschland ist gewachsen

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Krebserkrankte in benachteiligten Regionen erfahren Nachteile bei Prävention, Versorgung, Überleben und Nachsorge. Krebserkrankte in benachteiligten Regionen erfahren Nachteile bei Prävention, Versorgung, Überleben und Nachsorge. © Pixel-Shot – stock.adobe.com

Krebserkrankte sind in sozial schwächeren Regionen nicht nur in der Versorgung benachteiligt, sondern auch bei Prävention, Überleben und Nachsorge. Dass verdeutlichen neue Forschungsergebnisse, die im Rahmen der Veranstaltungsreihe Zi insights vorgestellt wurden.

Unser Gesundheitssystem habe schwerwiegende chronische Krankheiten, sagte Prof. Dr. Karl Lauterbach bei der Übergabe seines Ministeramtes an die jetzige Bundesgesundheitsministerin Nina Warken. Die Lebenserwartung der Menschen liege unterhalb des europäischen Durchschnitts. Als eine Ursache nannte er, dass ärmere Menschen einen schlechteren Zugang zum System haben, und zwar auch zum Vorbeugesystem. 

Krebsinzidenz ist nicht überall gleich zurückgegangen

Die Forschungsergebnisse von Dr. Lina Jansen vom Epidemiologischen Krebsregister Baden-Württemberg am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) bestätigen das. Sie hat die Entwicklung der sozioökonomischen Ungleichheit in der Krebsinzidenz in Deutschland ausgewertet und für ihre Arbeit den Zi-Wissenschaftspreis „Regionalisierte Versorgungsforschung 2024“ erhalten. Betrachtet hatte sie mit Mitarbeitenden bevölkerungsbezogene Krebsregisterdaten von 2007 bis 2018 sowie Daten für 48 Millionen Einwohner zur Entwicklung bei Krebserkrankungen insgesamt (ICD-10 C00-C97, ohne C44, C77-C79) und für die häufigsten Tumorerkrankungen Darmkrebs-, Lungenkrebs, Brustkrebs bei Frauen sowie Prostatakrebs. 

Die Auswertung zeigt, dass sich die Krebsinzidenz in vielen Regionen Deutschlands im genannten Zeitraum rückläufig entwickelt hat, der Rückgang erfolgte jedoch in deutlich geringerem Maße in sozial benachteiligten Regionen. So hatten 2007 Männer in sozioökonomisch schwächsten Regionen eine um 7 % höhere Krebsneuerkrankungsrate als Männer in den am wenigsten benachteiligten Regionen. Dieser Unterschied verstärkte sich noch über die Jahre und erreichte einen Wert von 23 % im Jahr 2018. Bei den Frauen stieg der Unterschied von 7 % 2007 auf 20 % 2018. Es gebe dabei sehr große regionale Unterschiede generell.

Die Unterschiede beginnen bei der Prävention und beim Lebensstil und reichen bis zum Überleben nach Krebs und zur Nachsorge. Ursächlich für solche Unterschiede können der Versicherungsstatus sein, Einkommen, Bildungsniveau, Beschäftigung, Migrationsstatus oder wie hier die gebietsbasierte Deprivation. „Man weiß, dass mit einem schlechteren sozioökonomischen Status auf individueller Ebene der Lebensstil meist im Mittel schlechter ist, und diese Lebensstilungleichheiten haben auch über die Jahre zugenommen“, so Dr. Jansen. Zudem sei eine geringere Inanspruchnahme von Screening- oder Vorsorgeprogrammen bei einem niedrigeren sozioökonomischen Status bekannt. 

 Sozioökonomische Ungleichheiten verringern

„Die Hauptlösung wäre natürlich“, sagt Dr. Janssen, „dass wir generell sozioökonomische Ungleichheiten in der Gesellschaft verringern.“ Das sei aber auch der schwerste Ansatz. Für die Wissenschaft, sagt sie, wären zuerst einmal bessere und auch mehr Daten gut, um auch kleinräumige Analysen machen zu können. Jetzt hätte man sich das Ganze nur auf Kreisebene anschauen können mit Gruppen von im Durchschnitt 200.000 Personen und mehr. Es wäre aber interessant, gleichzeitig die individuellen sozioökonomischen Faktoren der Person zu kennen, was mit Krebsregisterdaten aber noch nicht möglich sei. Wünschenswert wäre deshalb ein kontinuierliches Monitoring der Ungleichheiten bei Krebs und dazu, wie diese Ungleichheiten in der Krebsinzidenz verringert oder überwunden werden könnten. 

Dr. Klaus Kraywinkel, Leiter des Zentrums für Krebsregisterdaten beim Robert Koch-Institut, bemerkte zu den Studienergebnissen, es sei kein krebsspezifischer Befund. Die Ungleichheiten fänden sich für alle Erkrankungen mit hoher Krankheitslast und Mortalität in Deutschland. Neu sei jedoch, die Krebsregisterdaten mit riesigen Fallzahlen als Datenquelle zu nutzen. Die Berichterstattung aus Krebsregistern gehöre in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern nicht zur Routine. Die Krebsregister enthielten auch keine Daten zu Anamnese und sozioökonomischem Status. Das liege daran, dass in Krebsregistern weltweit nur Daten im Behandlungszusammenhang erhoben würden. 

„Eine ausführliche Sozialanamnese sollte man machen“, betont Dr. Kraywinkel. Denkbar sind für ihn dafür Verlinkungen bspw. mit einem Berufsregister, wie es in Skandinavien gibt. Was man jetzt in Deutschland dank Gesundheitsdatennutzungsgesetz verlinken könne, seien Abrechnungsdaten der Kassen, aber auch diese würden nur bedingt Daten zu Risikofaktoren für Krebserkrankungen liefern und keinen Zusammenhang mit Einkommen. Vorstellen kann sich Kraywinkel einen Forschungsansatz über die Nationale Kohorte mit 200.000 Probanden, die mit Daten zu gesunden Patient:innen anfange und Endpunkte sammele. 

Lobende Worte für die Arbeit von Dr. Nina Janssen äußert auch Prof. Dr. Wolfgang Knauf vom Berufsverband der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland. „Ich fand es besonders bemerkenswert, dass Sie noch mal herausarbeiten konnten, dass beim Bronchialkarzinom eben die Deprivation eine ganz besonders ausgeprägte Rolle spielt, im Gegensatz zum Prostatakrebs. Also ich sage es mal etwas vereinfachend: Reichtum schützt nicht vor Prostatakrebs und umgedreht.“ Armut sei ein Surrogatparameter für Bildung und Ausbildungsgrad, darauf sollte das Augenmerk gerichtet werden, so Dr. Knauf. Seine Praxiserfahrung ist, wer einen höheren Bildungsstand hat, hat auch ein anderes Bewusstsein für seine Körperlichkeit. Das äußere sich in einer bewussteren Lebensführung, in einem anderen Lebensstil, aber auch in der Wahrnehmung von Früherkennungs- oder Präventionsprogrammen. 

In Diagnostik und Therapie aber keine Unterschiede

Dr. Knauf setzt deshalb auf den „informierten Patienten, mit dem man Probleme besprechen kann und Maßnahmen ergreifen kann“. Aus Sicht des Niedergelassenen, der auch dem Strategiekreis „Dekade gegen Krebs“ angehört, sollte der Blick auf Gesundheitsaufklärung, Gesundheitsbildung und Ausbildung gerichtet werden, wenn es darum gehe, Körperlichkeit zu begreifen. Weitere Faktoren seien Lebensverhältnisse, Infektionslast und Ernährungsstatus. „Es ist eine multifaktoriell zusammengemischte Situation.“ Aber auch darauf verweist Dr. Knauf: Ist eine bösartige Erkrankung identifiziert, gibt es in Deutschland – aufgrund des Sozialstaates, seiner Ausprägung und des Versicherungswesens – keinen Unterschied in der Qualität von weiterführender Diagnostik und Therapie. 

Quelle:
Zi insights