Aktueller Disput Spezialisten wissen mehr - aber nicht von der Allgemeinmedizin

Gesundheitspolitik Autor: Frank H. Mader und Ingolf Dürr

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Anfang 2016 hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) eine Diskussion über neue Wege in der Patientensteuerung bzw. in der "koordinierten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen" angestoßen. Neben den Hausärzten sind demnach als erste Anlaufstelle für Patienten auch sogenannte grundversorgende Spezialisten denkbar. Der Deutsche Hausärzteverband sieht hierin einen weiteren Versuch, die hausärztliche Kompetenz zu beschneiden. Was Hausärzte leisten und warum Spezialisten das nicht einfach übernehmen können, darüber wird allerdings nicht erst dieser Tage heftig gestritten, wie unsere Recherchen in die 1980er-Jahre zeigen.

Im Jahr 1984 hatte ein Leitartikel von Horst A. Massing in der Verbandszeitschrift "Der Praktische Arzt" zum Thema "Kampf um den Originalschein" für Wirbel gesorgt. Daraufhin hatte der damalige Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte Schmidt den Allgemeinärzten eine gewisse "Anmaßung" unterstellt, wenn diese ihre Patienten aufforderten, die Originalscheine direkt bei ihnen und nicht beim Spezialisten abzugeben.

Spezialisten sind keine Super-Allgemeinärzte

Dies wiederum veranlasste Prof. Dr. Robert N. Braun, Nestor der Allgemeinmedizin und damals Leiter des Niederösterreichischen Instituts für Allgemeinmedizin, zu einer fulminanten Replik, in der er deutlich machte, was das Besondere an der allgemeinärztlichen Tätigkeit ist, wie sich Hausärzte von Spezialisten abgrenzen und warum der Allgemeinarzt nicht durch einen hausärztlich tätigen Spezialisten verdrängt werden und damit überflüssig gemacht werden darf.

Die Stellungnahme von Robert N. Braun in der Zeitschrift Der Praktische Arzt 14/1984 hat auch nach mehr als 30 Jahren kaum an Aktualität eingebüßt:

Fraglos werden bei uns Internisten, Kinder- und Frauenärzte seitens der Patienten in breitem Umfange auch direkt in Anspruch genommen. Der Herr Präsident meint, die Allgemeinärzte sollten nicht so anmaßend sein, die Patienten darum zu bitten, die Originalscheine bei ihnen abzugeben, sondern die Patienten selbst entscheiden zu lassen, welchen geeigneten Arzt sie wegen ihrer Beschwerden konsultieren. Er hält es für verständlich, wenn eine Frau mit Unterleibsbeschwerden und auch zur Vorsorgeuntersuchung einen Frauenarzt oder eine Mutter mit einem kranken Kind einen Kinderarzt aufsucht. Es sei denn doch ein Zeichen von kindlicher Naivität oder Trotz, ernsthaft behaupten zu wollen, dass ein Frauenarzt von Frauenleiden nicht doch etwas mehr weiß als ein Allgemeinarzt oder ein Kinderarzt von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen mit all ihren Problemen. Schließlich hätten die Spezialisten dafür eine fünfjährige Weiterbildung auf sich genommen. Im Klartext heißt das: Es ist anmaßend, Frauen mit Unterleibsbeschwerden, Kinder und Menschen mit inneren Krankheiten für die Allgemeinmedizin zu beanspruchen, wo doch für diese Menschen in den Frauenärzten, Pädiatern und Internisten langjährig einschlägig weitergebildete Fachkräfte existieren. Deren überlegenes Wissen ernsthaft in Frage zu stellen, wäre ein Zeichen kindlicher Naivität oder Trotz.

Spezialisten sehen nur hoch selektierte Patienten

Dazu wäre aus allgemeinmedizinischer berufstheoretischer Sicht zu sagen: Zunächst einmal bestreitet niemand im Ernst, dass die Spezialisten mehr wissen als die Allgemeinärzte. Wovon aber wissen sie mehr? Gewiss nicht von der Allgemeinmedizin. Die Spezialisten sind während ihrer Weiterbildung jahrelang an den winzigen Auslesen von Fällen tätig, die aus den Praxen in die Krankenhäuser über- und eingewiesen werden. Es ist ein hoch selektiertes "Material".

Aus der Praxis wird nun einmal relativ wenig in den spezialistischen Bereich abgegeben. Die Ursache dafür ist, dass das bei gewissenhafter allgemeinärztlicher Zuwendung gar nicht öfter nottut. Immerhin nehmen wir die spezialistischen Angebote laufend dankbar in Anspruch. Aber damit, dass der Spezialist jahrelang im Krankenhausbereich tätig ist, hat er sich noch nicht einmal für die Funktion eines niedergelassenen Facharztes vorbereitet. Er muss in der Praxis mit ungewohnten Handlungszwängen fertig werden. Die Kassen sehen ihm genau auf die Finger, dass er nicht überdurchschnittlich hohe Kosten verursacht. Lernen kann er diese Funktion heute noch nirgendwo.Der Patient sollte den Arzt konsultieren können, den er bei seinen Beschwerden für geeignet hält? Das kann der Laie doch gar nicht entscheiden! Der Spezialist, der Zulauf von der Straße erhält, muss ja erst herausbekommen, ob der an ihn gelangte Patient bei ihm wirklich an der richtigen Adresse ist. Es genügt nämlich erfahrungsgemäß nicht für eine Frau, Unterleibsbeschwerden zu haben, um beim Gynäkologen in besten Händen zu sein.

Spezialisten im Überschuss

In Wirklichkeit aber liegen die Dinge ganz anders, wie Prosenc vor bald 20 Jahren statistisch belegen konnte: Lassen sich Fachärzte "im Überschuss" nieder – was längst der Regelfall ist –, so entziehen sie der Allgemeinmedizin homogen Anteile der gesamten Praxis. Damit werden die Spezialisten aber überwiegend durch banale Probleme beansprucht, mit denen sie während ihrer Weiterbildung fast nichts zu tun hatten. Ihre Erziehung ist ihnen bei der Versorgung solcher Fälle – ganz im Gegenteil – hinderlich. Bei unausgelesenen Problemen lassen sich ja nur in etwa 10 % wissenschaftlich überzeugende Zuordnungen zu Krankheitsbegriffen tätigen. Damit ist in 90 % der durch Selbstauslese zustande gekommenen Inanspruchnahmen die primär spezialistische Versorgung a priori fragwürdig. Die Briten wissen schon, warum in ihrem System zuerst grundsätzlich der Allgemeinarzt beansprucht werden muss. Bei Bedarf nimmt er dann ohnedies Überweisungen und Einweisungen vor. Da wir ein anderes System haben, muss im Interesse unserer Patienten gefordert werden, dass Spezialisten, die sich um Zulauf von der Straße (d. h. an einem nach eigenem Gutdünken selektionierten Patientenmaterial) betätigen wollen, eine drei- bis vierjährige zusätzliche Weiterbildung in Allgemeinmedizin nachweisen. In der heutigen Realität ist es im Übrigen schon längst so, dass die Spezialisten eben durch ihr teilweise "unausgelesenes Material" gezwungenermaßen und unbewusst nach allgemeinmedizinischer Art verfahren. D. h., sie praktizieren eine gezielte, zusammenschauende Kurzdiagnostik der Erfahrung auf intuitiv-individuelle Weise.

Leider machen die heutigen Allgemeinärzte noch nicht breit genug von den Mitteln Gebrauch, die die berufstheoretische Praxisforschung für sie bereits erarbeitet hat. Es sind Werkzeuge (wie die allgemeinärztliche programmierte Diagnostik), die die eigene Effektivität ganz entscheidend zu steigern vermögen. Etwas Gleichwertiges existiert in der gesamten spezialistischen Medizin (die Unfallchirurgie ausgenommen) nicht.

Schon heute lässt sich sagen, dass sich ein Kollege mit einer Gebietsbezeichnung an der ersten ärztlichen Linie unter dem ungewohnten Druck der Handlungszwänge weit schwerer tun muss als der gerade darauf spezialisierte Allgemeinarzt. In diesem Sinne können wir unseren Patienten tatsächlich keinen besseren Rat geben als den, im Erkrankungsfalle zuerst uns in Anspruch zu nehmen. Das geschieht in dem Bewusstsein, dass die Spezialisten mehr wissen als wir, aber eben nur in Bezug auf die von ihnen praktizierten Funktionen im Rahmen der Krankenhausmedizin. Mit dem unausgelesenen Krankengut dagegen können wir besser umgehen. Wenn die Ergebnisse der berufstheoretischen Praxisforschung Allgemeingut der Allgemeinärzte geworden sind, werden auch wir mehr wissen.

Auch heute noch können diese Argumente von Braun helfen, die eigene ärztliche Tätigkeit besser zu reflektieren und zugleich in seriöser Weise die fachliche und berufspolitische Auseinandersetzung mit den spezialistischen Fachkollegen zu führen.

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2016; 38 (10) Seite 28-30
Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf doctors.today publiziert.