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Und dann geht es ganz schnell

Autor: Dr. Cornelia Tauber-Bachmann

„Zuletzt ging ohne Rollstuhl und Sauerstoffgerät gar nichts mehr. Aber die Zigaretten gab sie nicht auf.“ „Zuletzt ging ohne Rollstuhl und Sauerstoffgerät gar nichts mehr. Aber die Zigaretten gab sie nicht auf.“ © iStock/Diy13
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Das Thema in unserer Praxiskolumne: Vom Leben und Tod einer Raucherin.

Es war keine Trauerfeier im herkömmlichen Sinn: Eine kleine Trauergemeinde hatte sich an dem sonnigen Nachmittag im Herbst zusammengefunden, um nochmal ihrer zu gedenken und die vielen schönen und fröhlichen Stunden mit ihr aus dem Gedächtnis zu holen.

Ja, sie war ein fröhlicher lebenslustiger Mensch, feierte gerne, trank auch mal zuviel Alkohol in netter Gesellschaft. Sie lud zu hervorragenden selbst gekochten Sonntags­essen ein und rauchte nach Lust und Laune. Natürlich zu viel. Über 50 pack years kamen da zusammen.

Sie liebte ihren Beruf, in dem sie Kinder und Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen betreute. Sie liebte die Kinder und die Kinder liebten sie. Sie hatte ein großes Herz und mancher junge Mensch verdankt ihr, dass er oder sie eine Berufsausbildung abschloss, sich das Leben wieder normalisierte und in geordneten Bahnen verlaufen konnte. Dabei setzte sie sich auch persönlich ein und ließ, wenn’s mal bei einem Jugendlichen zu Hause brenzlig wurde, ihn oder sie bei sich im Haus übernachten. Kurz gesagt, ihr Einsatz war genauso maßlos wie manchmal sie selbst, aber meist erfolgreich, und die jungen Menschen wurden, wie Sigmund Freud es genannt hat, liebes- und arbeitsfähig. Und damit bekamen sie die bestmögliche Grundlage für ihr Leben.

Leider blieben aber die fröhlichen Stunden nicht ohne Folgen. Ein Pankreaskarzinom konnte rechtzeitig entdeckt und behandelt werden. Was ihr mehr Probleme bereitete, war eine fortschreitende COPD mit häufigen Exazerbationen. Mehrmals pro Jahr landete sie deshalb im Krankenhaus und oft auf der Intensivstation.

Es kam, wie es kommen musste. Sie wurde immer kachektischer, die Osteoporose verkrümmte ihr den Rücken, die Spaziergänge wurden immer kürzer und langsamer. Ziemlich erschrocken berichtete sie mir vom Abschied ihres letzten Zöglings, Dessen Mutter wünschte ihr „eine gute Zeit und wenn’s dann soweit ist, soll es schnell gehen.“

Zuletzt ging ohne Rollstuhl und Sauerstoffgerät gar nichts mehr. Aber die Zigaretten gab sie nicht auf, obwohl ich ihr seit vielen Jahren einen Entzug nahelegte. Sämtliche Bemühungen wusste sie zu boykottieren. Vor den Hausbesuchen räumte sie die verdächtigen Päckchen gut weg und lüftete. Immer wenn ich es trotzdem roch und sie darauf ansprach, wurden unsere Gespräche heftiger. Leider ohne Erfolg. Die psychologischen Tricks beherrschte sie selber!

Dann kam der Tag vor meinem Urlaub, an dem sie Blut hustete. Eine stationäre Einweisung lehnte sie selbstredend ab. Nach meinem Urlaub lag sie auf der Intensivstation, frisch tracheotomiert. Man hatte sie bewusstlos zu Hause vorgefunden. Die von uns beiden zusammen entworfene Patientenverfügung lag nicht unterschrieben auf dem Wohnzimmertisch. Tragisch, nicht?

Was war also das Spezielle an dieser Trauerfeier? Anwesend waren neben der engsten Familie und den Nachbarn ihre Pflegerin, ihre Krankengymnastin, einige ihrer Schützlinge und ich, die Hausärztin. Wir alle fühlten die besondere Beziehung zu ihr, die sie aufzubauen und zu halten verstand; wir alle begleiteten sie trotz ihrer Unvernunft, ihrer Sucht und ihrem Eigensinn, mit dem sie viele unserer auch therapeutischen Bemühungen durchkreuzte. So wird sie uns im Gedächtnis bleiben: ein toller Mensch mit allen seinen Schwächen und Gebrechen, ein erfülltes, wenn auch kein langes Menschenleben lang. Als ich aus der Kapelle ging, vermeinte ich, einen leichten Duft nach Zigaretten zu verspüren ...

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