Anzeige

Praxiskolumne Von Haus aus auf Hausbesuch

Autor: Dr. Jörg Vogel

Manchmal findet man bei Hausbesuchen regelrechte Wohnhöhlen, in denen jahrtausendealte Gerüche auferstehen. (Agenturfoto) Manchmal findet man bei Hausbesuchen regelrechte Wohnhöhlen, in denen jahrtausendealte Gerüche auferstehen. (Agenturfoto) © joyfotoliakid – stock.adobe.com; MT
Anzeige

Hausbesuche sind oft umständlich und werden zudem noch undankbar schlecht bezahlt. Unser Kolumnist würde sie dennoch niemals verneinen.

Neulich landete eine Patientin als Vertretungsfall in meiner Praxis, die ich noch von früher kenne. Sie wechselte vor etwa einem Jahr „ohne Not“ (z.B. wegen eines Umzugs o.ä.) zu einer Kollegin in der Nachbarschaft. Ich weiß noch, wie sich meine damalige Arzthelferin über das Abwandern dieser nicht ganz einfachen Frau aufregte: „Gerade bei ihr hatte ich mir besonders viel Mühe gegeben, all ihre Sonderwünsche zu erfüllen!“

Mich selbst ärgern diese Arztwechsel schon lange nicht mehr. Solche Patienten sind eben nie zufriedenzustellen. Und ich kann stets von mir sagen: „Du hast dein Bestes getan!“ Darum halte ich es mit dem Leitspruch eines befreundeten Kollegen: „Wer gehen will, soll gehen. Meine Stühle haben keine Ketten!“ Nur ganz selten (und das passiert wirklich selten) nagt es doch ein wenig an mir. Insbesondere, wenn es Menschen sind, bei denen in den vielen Jahren ein recht persönliches Vertrauensverhältnis entstanden ist.

Nun saß jedenfalls diese charakterlich schwierige Patientin wieder in meinem Sprechzimmer. Als ich sie versorgt hatte und sie zu ihrer Frau Doktor zurückschicken wollte, drängte sie doch tatsächlich auf Rückkehr in unsere Praxis. Sie begründete dies damit, dass ihre Ärztin keine Hausbesuche mache.

Das wunderte mich doch sehr. Denn ich war immer der Meinung, dass es für uns als Allgemeinmediziner ganz selbstverständlich zum Job gehört, Hausbesuche zu machen. Auch deshalb werden wir ja „Haus­ärzte“ genannt. Ob man in der Inneren Mongolei dann vielleicht „Jurtenarzt“ heißt? Ich weiß es nicht.

Klar, Hausbesuche machen nicht wirklich Spaß. Zwar ist es schon interessant, das häusliche Milieu eines Patienten kennenzulernen. Man sieht, wie er lebt, ob er seine Diät einhält oder riecht vielleicht die verheimlichte Zigarette. Manchmal stößt man auch auf eine unvermutete Verwahrlosung der Wohnung, so wie es mir kürzlich bei einer Gymnasiallehrerin ging, die von ihrem Mann verlassen worden war. Dann kann man die ständigen Rückenschmerzen ganz anders einordnen.

Aber Hausbesuch heißt immer auch: improvisieren. Besonders im Akutfall. Da trifft man auf etepetete Wohnungen ganz in weiß, wo der Hausdrachen allen Ernstes verlangt, dass man als Arzt die Schuhe auszieht, bevor man zum notfälligen Mann ins Schlafzimmer eilen darf.

Manchmal findet man auch regelrechte „Wohnhöhlen“ vor, in denen jahrtausendealte Gerüche wieder auferstanden sind. Sämtliche Stühle sind mit Klamotten behängt, die in puncto Sauberkeit an das Taschentuch eines Klempners erinnern. Dafür gibt es einen riesigen Flachbildfernseher.

Der Kranke befindet sich in aller Regel auf dem Sofa, vor dem oft ein Couchtisch steht, den selbst die Klitschko-Brüder nicht fortbewegen könnten. Oder er liegt im ehelichen Schlafzimmer auf der Fensterseite. Der Gang dahin ist so eng, dass man sich, ähnlich einem Kriminalkommissar, seitwärts schleichend, mit der Spritze im Anschlag hindurchquetschen muss. Merke: Das Schlafzimmer ist meist der Lagerraum der Familie. Oft stehen auch noch Angehörige im Weg. Sie beurteilen fachkundig das Krankheitsbild, meist unter Hinzuziehung von Beispielen aus dem Internet oder der Apothekenumschau.

Schlussendlich wird der ärztliche Hausbesuch auch von den Kassen in keiner Weise gewertschätzt, d.h. miserabel bezahlt. Sind die Komplexziffern bereits „verballert“, bleiben eigentlich nur die 01410 oder 01411. Und die Fahrtentgeltpauschale wird durch die Spritpreis­explosion ad absurdum geführt. All das macht Hausbesuche natürlich unattraktiv. Trotzdem sind sie deshalb nicht grundsätzlich zu verneinen. Nicht, wenn man sich „hausärztlich“ nennt (obwohl man vielleicht Internistin ist).

Nun, o.g. Patientin habe ich nicht wieder aufgenommen – aus Prinzip nicht. Wer einfach mal so seinen Doktor verlässt, der würde das auch wieder tun.

Anzeige