
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung Kann der Arbeitgeber gegen Krankschreibung vorgehen?

„Die AU hat grundsätzlich einen sehr hohen Beweiswert“, so Simone Schäfer, Fachanwältin für Arbeitsrecht bei der Kanzlei HMS.Barthelmeß Görzel Rechtsanwälte. Dieser könne jedoch angegriffen werden, wenn konkrete Umstände Zweifel an seiner Richtigkeit begründen. In den letzten Jahren habe das Bundesarbeitsgericht in diversen Fallkonstellationen festgestellt, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) erschüttert wurde. Die Rechtsprechung sei arbeitgeberfreundlicher geworden.
Was ein Arbeitgeber machen darf, wenn er Hinweise hat, dass eine AU nur vorgeschoben ist, erklärt der Rechtsanwalt für Arbeitsrecht Moritz Füser: „Der Arbeitgeber kann den Medizinischen Dienst für eine Untersuchung des Arbeitnehmers ins Boot holen und prüfen lassen, ob wirklich eine AU vorliegt und ob sich diese mit der AU-Bescheinigung deckt.“
Zweifel an der AU können z. B. entstehen, wenn sich Versicherte auffällig häufig oder oft nur für kurze Dauer – insbesondere zu Beginn oder am Ende einer Woche krankmelden. Auch wiederholte AU-Bescheinigungen zum Ende des Urlaubs sowie Krankmeldungen mit Ankündigung, nach innerbetrieblichen Differenzen oder nach einer ausgesprochenen Kündigung können Skepsis auslösen.
Um den Medizinischen Dienst (MD) einzuschalten, muss sich der Arbeitgeber an die zuständige gesetzliche Krankenkasse wenden. Die Prüfung durch die Krankenkasse hat unverzüglich nach Vorlage der AU-Bescheinigung zu erfolgen. Der MD teilt das Ergebnis seiner Begutachtung der Krankenkasse und dem behandelnden Arzt mit. Solange noch Anspruch auf Entgeltfortzahlung besteht, wird der Arbeitgeber von der Krankenkasse über das Ergebnis der Begutachtung informiert, wenn dieses von der Feststellung des behandelnden Arztes abweicht. Die Kasse kann von einer Beauftragung des MD absehen, wenn sich die medizinischen Voraussetzungen der AU eindeutig aus den ihr vorliegenden Untersuchungsangaben ergeben.
Detektivarbeit ist das letzte Mittel bei Zweifel an der AU
Neben Ermittlungsmaßnahmen, die ein Arbeitgeber in Misstrauensfällen einleiten kann, wie Videoüberwachung, Mitarbeiterbefragungen oder Auswertung von IT-Systemen, kann der Einsatz eines Privatdetektivs ein letztes Mittel sein. Ein solcher Einsatz ist zwar selten kostengünstig, bietet aber Vorteile, wenn der Ermittler tatsächlich Erkenntnisse zum Verdacht liefert und als potenzieller Zeuge in Gerichtsverfahren dienen kann.
„Die Detektivarbeit darf aber nur bei berechtigten und erheblichen Zweifeln durchgeführt werden, die auf konkreten Tatsachen beruhen – das ist BAG-Rechtsprechung“, so Füser. Der Arbeitgeber müsse die Verhältnismäßigkeit beachten. Denn eine Detektivkontrolle stelle einen schweren Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen dar.
Deswegen knüpft das BAG die heimliche Observation auch an enge Voraussetzungen: Die aus dem Einsatz von Detektiven folgende Verarbeitung von Gesundheitsdaten kann nur zulässig sein, wenn der Beweiswert der ärztlichen AU erschüttert und eine Untersuchung durch den MD nicht möglich ist oder die Einschaltung des MD objektiv keine Klärung erwarten lässt (BAG-Urteil vom 25. Juli 2024, Az.: 8 AZR 225/23).
Hausbesuche des Arbeitgebers sind selten zulässig
Vom Unternehmen Tesla wird berichtet, dass es Hausbesuche zur Krankheitsüberprüfung durchgeführt hat. „Wir sind der Meinung, dass Hausbesuche durch Arbeitgeber in der Regel nicht zulässig sind“, sagt Füser. Krankgeschriebene Beschäftigte seien auch nicht verpflichtet, sich zu Hause aufzuhalten. Sie können z. B. spazieren gehen, um nach zwei Tagen Grippe den Kreislauf wieder etwas in Schwung zu bringen. „Auch Einkäufe dürfen erledigt werden. Denn nicht in jedem Dorf gibt es Lieferdienste, die alle Lebensmittel liefern.“
Es gebe auch keine Pflicht, einen vor der Tür stehenden Arbeitgeber reinzulassen. „Im Artikel 13 des Grundgesetzes ist die Unverletzlichkeit der Wohnung geregelt. Ein sehr starkes Grundrecht, das die Privatsphäre betrifft und schützen soll.“ Auch hier gelte: Ohne Verdachtsmomente ist Ausspähen nicht erlaubt und Beweismittel können dem Beweisverwertungsverbot unterliegen.
Freizeitakitvitäten müssen im Einklang mit Diagnose stehen
Freizeitaktivitäten während der Erkrankung sind den Versicherten auch gar nicht verboten. Entscheidend ist: Ist diese Aktivität der Genesung zuträglich oder nicht? „Wenn eine Mitarbeiterin beispielsweise an einer Depression erkrankt ist, könnte ausgelassenes Feiern an Karneval mit den besten Freunden der Genesung grundsätzlich zuträglich sein. Das muss jedoch im Einklang mit der ärztlichen Diagnose stehen“, so Füser.
Wird der Heilungserfolg durch gesundheitswidriges Verhalten gefährdet, etwa wenn eine Arbeitnehmerin mit Grippe auf eine Party geht und dort viel Alkohol trinkt, ist das nicht der Genesung zuträglich. Sollte dieses Verhalten publik werden, sind arbeitsrechtliche Sanktionen wie Abmahnungen, Kündigungen und außerordentliche Kündigungen möglich.
Die AU bleibt auch in der Kündigungsfrist vergütet
Erkrankt jemand während der Kündigungsfrist, hat das grundsätzlich keine Auswirkungen auf den Entgeltvorzahlungsanspruch. Das Arbeitsentgelt wird wie immer bis zu sechs Wochen am Stück bezahlt – sofern keine Selbstverschuldung vorliegt.
„Es gab in den letzten zwei Jahren einen Rechtsprechungswechsel, insbesondere für den Fall, wenn ein Arbeitnehmer eine passgenaue AU-Bescheinigung bis zum Ende der Kündigungsfrist vorlegt“, so Füser. „In diesen Fällen sieht mittlerweile das BAG ein Indiz dafür, dass nicht unbedingt eine Erkrankung vorliegt. Dem Arbeitnehmer wird die Pflicht auferlegt, dass er seine Arbeitsunfähigkeit beweisen muss, falls der Arbeitgeber diese anzweifelt.“ Wenn der Fall vor Gericht geht, müsste der behandelnde Arzt von der Schweigepflicht entbunden werden und darlegen, dass die Patientin oder der Patient wirklich krank war.
Wiedereingliederung sollte auf jeden Fall versucht werden
Ist ein Arbeitnehmer länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt krank ist, muss der Arbeitgeber ihm ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) anbieten. Ziel des BEM ist es, die AU zu überwinden, einer Wiederholung vorzubeugen und den Arbeitsplatz zu erhalten.
„Das BEM ist zwar keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine krankheitsbedingte Kündigung. Aber wenn ein Arbeitgeber sie nicht durchführt, kann er in 99 % der Fälle nicht vor Gericht darlegen, dass eine krankheitsbedingte Kündigung gerechtfertigt ist“, erklärt Füser. Der Arbeitnehmer kann Vertrauenspersonen zu dem Gespräch hinzuziehen. „Und es gibt keine Verpflichtung zur Teilnahme. Es kann aber negativ gewertet werden, wenn man das BEM ablehnt.“
Eine Erkrankung im Urlaub sollte schnell vorlegt werden
„Erkrankt ein Arbeitnehmer im Urlaub, muss er das unverzüglich melden, anzeigen und im Einklang mit den arbeitsvertraglichen Regelungen entweder ab dem ersten oder ab dem dritten Tag eine AU-Bescheinigung vorlegen“, so Füser. Wer im Ausland ist, muss die Adresse des Aufenthaltsortes mitteilen.
Dabei schließen sich Urlaub und AU grundsätzlich aus, denn im Urlaub sollen sich Mitarbeitende erholen. Das heißt: Krankheitstage werden nicht auf den Urlaubsanspruch angerechnet, wenn man durch eine AU beweisen kann, dass man tatsächlich erkrankt ist. Eine im Urlaub ausgestellte AU von einem ausländischen Arzt ist grundsätzlich genauso gültig wie eine in Deutschland ausgestellte. Allerdings kann der Arbeitgeber die Glaubwürdigkeit der Bescheinigung anzweifeln, etwa wenn der Arbeitnehmer häufig während Auslandsurlauben eine AU einreicht oder wenn der Arbeitgeber die Schrift nicht entziffern kann, weil z. B. für die AU arabische Schriftzeichen verwendet wurden.
Quelle: Webinar – HMS.Barthelmeß Görzel Rechtsanwält