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Willkommen im Varianten-Stadl

Autor: Dr. Jörg Vogel

Medien und Politik jonglieren Informationen über die Virusvarianten – gelegentlich fällt eine relevante Einordnung unter den Tisch. Medien und Politik jonglieren Informationen über die Virusvarianten – gelegentlich fällt eine relevante Einordnung unter den Tisch. © iStock/Leontura
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Allerorten werden Virusvarianten auf der Basis von gesundem Halbwissen diskutiert und Ängste geschürt. Unser Kolumnist sieht die Verantwortung dafür bei Politik und Medien.

Viele meiner Patienten sind inzwischen zu gut ausgebildeten Hobby-Virologen mutiert. Kein Wunder, werden sie doch seit über eineinhalb Jahren medial dahingehend geschult. Mal ist es der gewohnte Angst machende Zahlensalat, mal sind es die Interviews mit unseren gesundheitspolitischen Bürdenträgern. Während Herr Wieler nicht aufhört, mit Grabes­stimme vor dem virologischen ­Supergau zu warnen, hätte uns Herr Lauterbach wohl am liebsten den Urlaub verboten.

Seit einigen Monaten haben sie sich auf die Virusvarianten eingeschossen. Zuerst war es die britische, die ja so viel ansteckender und krank machender sein sollte, als alles bisher Dagewesene. Bis eine Studie zeigte, dass schwere Verläufe nicht häufiger auftreten. Dann kam die indische Variante um die Ecke, deren Ausbreitung in Deutschland es unbedingt zu verhindern galt. Was natürlich nicht ging. Schon wieder wurden die Menschen in Angst und Schrecken versetzt und bangten – ja, um was eigentlich? Nicht so sehr um ihre Gesundheit. Sondern eher um ihre gerade wieder erlangten Teil-Freiheiten und um ihren endlich machbaren Urlaub. 

Und so sitzt ein in Würde ergrauter Herr vor mir in der Praxis und fragt: „Sagen’se mal, Herr Doktor, wirkt denn meine Impfung jetzt auch gegen Delta?“ Man beachte die fortgeschrittene Ausdrucksweise. 

Er spricht nicht mehr von einer Virusvariante­, sondern ganz fachmännisch kurz von „Delta“. Dabei ist der Mann emeritierter Schulhausmeister. Ein anderer meint: „Wir werden sowieso keine Ruhe mehr finden. Jetzt ist ja schon Lambda im Anmarsch. In den Nachrichten haben sie es schon gebracht und in der Zeitung hat es auch gestanden.“ Ich frage ihn spitzbübisch, was denn mit der Epsilon-Variante sei. Laut griechischem Alphabet käme die doch an die Reihe. Er versteht mich nicht. Aber die dritte Spritze sei ja wohl längst beschlossene Sache.

Nach solchen Gesprächen frage ich mich: Was haben Medien und Politiker aus den Bürgern gemacht? Sie treiben alle paar Monate eine neue Variante wie die sprichwörtliche Sau durchs Dorf – bevor überhaupt klar ist, welche Bedeutung diese Sau eigentlich hat. Kein Wunder, dass manche von Angstmache sprechen und viel Halbwissen kursiert. Soll diese Art von Berichterstattung etwa mehr Zögerer zum Impfen bekehren? Oder befriedigen hier nur ein paar Medienfürsten ihr Bedürfnis, Schreckensnachrichten zu verbreiten? 

Wir Mediziner wissen doch, dass Viren nun mal mutieren, sich also anpassen. Sonst gäbe es sie vielleicht nicht mehr. Wenn man aber dann schon vor Laien über so etwas spricht, sollte man nicht zumindest erwähnen, dass die Weltgesundheitsorganisation und das Robert Koch-Institut „besorgniserregende Varianten“ wie Alpha und Delta von „Varianten von Interesse“ unterscheiden. Letztere, darunter eben auch Lambda und Epsilon, stehen unter Beobachtung, weil Veränderungen der Viruseigenschaften teils nur vermutet werden können. Ausreichend belastbare Daten fehlen noch. Diese Varianten eignen sich somit auch nicht zum Angstmachen!

Da nun durch die Deltavariante die Inzidenzen (erwartungsgemäß) wieder steigen, wir also offensichtlich weiter von diesem Virus belästigt werden, stellt sich auf Dauer die Gretchenfrage: Ist „positiv“ gleich „krank“? Oder kommen wir endlich zu Vernunft und kümmern uns primär um die Patienten mit Symptomen? Und machen nicht gleich alles wieder dicht, insbesondere nicht die Schulen. Und hören auf, jede Nachrichtensendung mit dem Coronathema­ zu eröffnen. Sonst werden wir wirklich noch zu einer Gesellschaft der verängstigten Alten und der dumm gebliebenen – weil nicht beschulten – Jungen.

Aber selbst wenn es so kommt, eines ist sicher: Unser Gesundheitswesen wird jeden dieser Menschen wunderbar digital verwalten. Wenigstens ein Lichtblick im ­Varianten-Stadl! Oder etwa nicht?

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