Es weht der Wind der Innovation Wohin es geht, erklärt der Präsident der Diabetes Herbsttagung
Hochleistungssport und Diabetesmanagement – Tagungspräsident Professor Dr. Karsten Müssig gibt Einblicke in die diesjährige Diabetes Herbsttagung.
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Herr Professor Müssig, das Motto der Tagung lautet: „360° Diabetes – Leinen los, gemeinsam zu neuen Ufern!“ Was verbinden Sie damit?
Prof. Müssig: Ein ganz wichtiger Aspekt steckt schon in „360°“ – das drückt aus, dass der Mensch mit Diabetes und die Diabeteserkrankung in den Mittelpunkt gestellt und aus allen Perspektiven betrachtet werden. Und „Leinen los“ kommt ja vom Segeln und hat etwas sehr Dynamisches. Darin steckt der Aufbruch zu etwas Neuem, zu neuen Zielen, zu denen wir gemeinsam starten. „Gemeinsam zu neuen Ufern“ sagt aus, dass wir es nur im Team schaffen können, in dem der Mensch mit Diabetes selbst eine ganz zentrale Rolle spielt, flankiert und begleitet von Ärzt*innen, Diabetesberater*innen, Psycholog*innen und, und, und.
Ein Highlight ist die Eröffnungsveranstaltung mit dem zweifachen Olympia-Bronzemedaillengewinner im Segeln, Thomas Plößel. Welche Parallelen sehen Sie zwischen Hochleistungssport und Diabetesmanagement?
Prof. Müssig: Ich kenne eine Reihe von Leistungs- und Hochleistungssportler*innen mit Diabetes, denen es vorzüglich gelingt, die Erkrankung in ihren Alltag zu integrieren und strukturiert und diszipliniert ihren Tag zu gestalten. Sport hat etwas mit Motivation zu tun. Ich setze mir immer wieder Ziele, die ich bis ins letzte Detail verfolge. Es ist ganz klar: Diese Ziele erreiche ich nicht allein. Ich habe ein Team um mich herum – und das hat der Mensch mit Diabetes ja auch.
Es gibt aber auch Momente, in denen ich eine Niederlage erleide. Boris Becker hat mal gesagt: „Ich habe am meisten aus meinen Niederlagen gelernt.“ Auch bei Menschen mit Diabetes gibt es Tage, an denen die Stoffwechseleinstellung nicht gut ist, aber auch das kann man nutzen und sich fragen, woran es gelegen hat und wie es gelingen kann, es besser werden zu lassen. Ich möchte Thomas Plößel nicht zu viel vorwegnehmen – er wird sicherlich noch viel mehr Parallelen aufzeigen.
Wenn Sie die Tagung als Segelboot sehen, wer oder was wären der Wind und die Segel?
Prof. Müssig: Der Wind wäre sicherlich die Innovation und auch die Motivation und Energie, die uns alle voranbringt, um die Behandlung der Menschen mit Diabetes zu verbessern, aber auch überhaupt zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu kommen. Und die Segel könnten alle sein, die an diesem Prozess beteiligt sind, die Energie aufnehmen und zur Innovation beitragen. Der Wind kann auch mal stürmisch werden – das sind dann die gesundheitspolitischen Einflüsse, denen wir ausgesetzt sind. Aber mit einem starken Team kann man einem Sturm begegnen und abwettern, wie man im Seglerischen sagt.
Welche zentralen Botschaften soll die Tagung aussenden?
Prof. Müssig: Betont werden soll die ganzheitliche Betrachtung des Diabetes. Das spiegelt sich in den Symposien wider, so zeigt sich die enge Verbundenheit mit der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie daran, dass die DGE mit Symposien vertreten sein und so der Diabetes auch aus ihrem Blickwinkel betrachtet wird. Und wir haben weitere Fachgesellschaften eingeladen, etwa die der Angiologie, Kardiologie und Gastroenterologie. Ich hoffe sehr, dass diese Interdisziplinarität die Tagung bereichern wird.
Was für mich persönlich eine ganz große Bedeutung hat, ist die Einbindung des Nachwuchses – durch die Reisestipendien und auch durch das Rahmenprogramm mit Mentoring. Ich durfte zusammen mit Kolleg*innen die Reisestipendien vergeben und habe mich sehr gefreut, dass sehr viele Studierende dabei waren. Sie signalisieren so schon sehr frühzeitig in ihrer Ausbildung, dass sie sich für Diabetologie interessieren. Dass sie die Möglichkeit haben, auf der Tagung auf Augenhöhe mit Experten zu sprechen, ist eine Chance, junge Menschen für die Diabetologie zu gewinnen. Dabei spielt auch die AG Nachwuchs eine entscheidende Rolle.
Im Tagungsprofil wird die Translation betont. Wo sehen Sie die größten Hürden beim Transfer?
Prof. Müssig: Das sind Probleme, die nicht nur in der Diabetologie bestehen. Aber gerade die Diabetologie ist ein sehr komplexes Fach. Wir wissen, dass die Entstehung des Diabetes multifaktoriell ist und es ist sicherlich nicht ganz einfach, neues Wissen zu transferieren. Außerdem kann der Wunsch nach Wissenszuwachs und Erkenntnissen ganz unterschiedlich sein – ein Patient wünscht sich Innovation vielleicht in einem Bereich, in dem ein Grundlagenforscher gar nicht arbeitet. Es wäre wichtig, dafür vielleicht auch die Wissenschaftler*innen zu sensibilisieren: Wo drückt die Betroffenen am stärksten der Schuh? Wäre es sinnvoll, die Energie in diese Bereiche zu lenken? Die verschiedenen Gruppen sollten mehr miteinander kommunizieren – hier können wir sicherlich besser werden.
Natürlich ist die Translation auch eine Geldfrage. Wir wissen, dass jede Innovation mit Investitionen verbunden ist, und es lässt sich nicht alles, was uns technisch zur Verfügung steht, allen zugänglich machen. Das sind einige der Gründe, warum es mit dem Transfer nicht immer reibungslos klappt. Ohnehin wissen wir, dass es manchmal Jahre und Jahrzehnte dauert, bis eine Erkenntnis aus grundlagenwissenschaftlichen Arbeiten in eine Leitlinie und in die Behandlung Eingang findet.
Wie wichtig ist die interprofessionelle Zusammenarbeit z. B. mit Diabetesberater*innen und -assistent*innen?
Prof. Müssig: Mir persönlich ist sie sehr wichtig, und gerade die Herbsttagung richtet sich ja insbesondere an Diabetesberater*innen. Wir können sehr viel voneinander lernen, weil der Blick auf die Patient*innen doch sehr unterschiedlich ist. Ein Arzt kann z. B. sehr viel von einer Diabetesberaterin lernen, wenn es um Edukation und Motivation geht. Und umgekehrt kann eine Beraterin vielleicht profitieren von dem Hintergrundwissen des Arztes in Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie. Letztendlich kann all das dazu beitragen, dass Menschen mit Diabetes bestmöglich betreut werden. Und dabei habe ich viele Berufsgruppen wie Psycholog*innen und Ernährungstherapeut*innen noch gar nicht genannt, die noch einmal einen anderen Blick haben.
Was können Behandelnde von Menschen mit Diabetes lernen?
Prof. Müssig: Erst einmal nimmt der Mensch mit Diabetes natürlich im Behandlungsteam die zentrale Rolle ein. Er gibt die Richtung vor, wie die Therapie verlaufen sollte. Und er kann auch in der Ausrichtung der wissenschaftlichen Tätigkeit seine Ideen einbringen und sagen: In diesem oder jenem Bereich sollte Innovation entstehen, hier gibt es etwas, was uns im täglichen Diabetesmanagement fehlt.
Gibt es Symposien/Workshops, die Sie besonders empfehlen?
Prof. Müssig: Natürlich empfehle ich besonders die Eröffnungsveranstaltung mit Thomas Plößel und der Verleihung der DDG Medienpreise. Bei den Symposien machen für mich besonders jene einen besonderen Reiz aus, die in Kooperation mit anderen Fachgesellschaften stattfinden. Interessant finde ich das Symposium „Das diabetologische Überraschungsei“, in dem interessante und auch seltene Fälle vorgestellt werden. Die Teilnehmenden können mitraten – es wird also interaktiv. Bei den Workshops gibt es einen mit dem Titel „Diabetesprävention – von der Empfehlung zur Umsetzung“, in dem man gemeinsam kocht, da werde ich sicherlich vorbeischauen.
Was sollten die Teilnehmenden von der Diabetes Herbsttagung mit nach Hause nehmen?
Prof. Müssig: Ich würde mir wünschen, dass die Teilnehmenden mit viel frischem Wind in den Segeln in ihre Arbeit zurückkehren und das neu Gelernte in der Behandlung anwenden können. Ich wünsche mir außerdem, dass sie neue Kontakte geknüpft und Netzwerke aufgebaut haben, die auch in der Behandlung von Menschen mit Diabetes nützlich sind. Und gerade für die jüngeren Kolleg*innen wünsche ich mir, dass sie mit noch mehr Begeisterung nach Hause zurückkehren und sagen: Mensch, das war super, ich bin jetzt sicher: Ich werde z.B. Diabetolog*in, Ernährungswissenschaftler*in mit Schwerpunkt Diabetologie oder Psychodiabetolog*in.
Interview: Günter Nuber, Nicole Finkenauer
Quelle: Medical-Tribune-Bericht
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