
Entscheidend ist immer der Faktor Zeit

Definiert ist ein medizinischer Notfall als Situation, „die ohne sofortige medizinische Behandlung zu schweren oder auch bleibenden Schäden oder dem Tod führt“, erinnerte Dr. Hartmut Ständer aus Bad Bentheim. Obwohl das für dermatologische Erkrankungen eher untypisch ist, sind „unsere Notaufnahmen irgendwie voll“, so Dr. Ständer. Denn, „den [Patienten] interessiert diese medizinische Definition gar nicht“.
Dr. Ständer unterscheidet im dermatologischen Alltag anhand des Zeitfaktors zwei Notfall-Situationen:
- unverzügliches Handeln erforderlich: medizinische Notfälle mit möglicher akuter Lebensgefahr innerhalb von Minuten bis Stunden, z. B. Anaphylaxie, Angioödeme (Gesicht und Rachen)
- zügiges Handeln (innerhalb der ersten Stunden) erforderlich: unbehandelt droht Lebensgefahr oder eine schwere Beeinträchtigung innerhalb der nächsten Stunden bis Tage, z. B. Infektionen, schwere generalisierte Hautreaktionen (EEM, SJS, TEN), Autoimmundermatosen
Die dritte Dringlichkeitsstufe würde nur noch ein zeitiges oder zeitnahes Handeln erforderlich machen und bedarf in der Regel einer langfristigen Therapie. Bestes Beispiel dafür sind Tumorerkrankungen, die unbehandelt innerhalb von Monaten bis Jahren tödlich sein können.
Die Anaphylaxie bzw. der anaphylaktische Schock betreffen Dermatologinnen und Dermatologen unmittelbar, weil sie im Rahmen einer Behandlung induziert werden können, beispielsweise bei SCIT, Provokation oder durch Lokalanästhetika. In Deutschland sterben hochgerechnet jedes Jahr zwischen 80 und 240 Menschen an einer Anaphylaxie (s. Kasten). In der Regel tritt die Reaktion akut auf. Es gibt auch verzögerte Formen, z. B bei Alpha-Galaktose.
Anaphylaxie
Die Gesamtprävalenz der Anaphylaxie liegt in Deutschland bei 1–15 %. Aufgrund der uneinheitlichen Definition geht man aber von einer höheren Dunkelziffer aus. Spitzenreiter bei den Auslösern einer anaphylaktischen Reaktion sind bei Erwachsenen nach wie vor Insektengifte (52 %), gefolgt von Medikamenten (22 %). Bei Kindern führen die Nahrungsmittel (60 %), erst dann kommen die Insektengifte (22 %). Medikamente spielen als Auslöser im Kindesalter kaum eine Rolle. Unterschieden wird die Anaphylaxie in immunologisch (meist IgE-vermittelt) und nicht immunologisch (G-Protein-vermittelt). Klinisch manifestiert sich die Reaktion über einen relativen Volumenmangel, eine Ateminsuffizienz und eine Dyspnoe mit dem bekannten Circulus vitiosus der unbehandelt zu Multiorganversagen und Kreislaufstillstand führen kann. Adrenalin ist spätestens ab einer Anaphylaxie Grad zwei das Mittel der ersten Wahl. Daher sollte nach einer anaphylaktischen Reaktion leitliniengerecht ein Notfallset (mit Adrenalin-Pen) verordnet und ein Notfallpass ausgestellt werden.
„Oder Erdnuss, da liegt der Median etwa bei 55 Minuten“, fügte Dr. Ständer hinzu. Da sich die Dynamik nicht abschätzen lässt, muss unmittelbar gehandelt werden. Symptome können sich nicht nur innerhalb von Minuten verschlechtern, die Reaktion kann auch biphasisch verlaufen. Daraus ergibt sich die Empfehlung von Dr. Ständer, spätestens ab Grad 2 oder bei vorherigen biphasische Verläufen einen Patienten oder eine Patientin stationär für mindestens 24 h nachbeobachten zu lassen.
Angioödeme können histamin-induziert (Anaphylaxie, Allergie, Arzneimittelreaktion, idiopathisch), oder bradykinininduziert (C1-INH-Mangel, ACE-Hemmer-induziert, idiopathisch) sein (siehe Kasten). Obwohl bradykinininduzierte Angioödeme deutlich seltener sind, darf man sie nicht unterschätzen, denn bei ihnen bilden sich häufiger lebensgefährliche Larynxödeme und sie sprechen weder auf Antihistaminika noch Glukokortikoide an. Nur einer der vier derzeit verfügbaren Akutwirkstoffe ist als subkutan applizierbare Fertigspritze auf dem Markt, der Rest muss i. v. gegeben werden. Die bradykininspezifischen Therapeutika sind alle relativ teuer und müssen gekühlt werden. „Kein Rettungswagen in Deutschland wird diese Präparate irgendwo mit sich führen“, warnte Dr. Ständer. Menschen mit einem solchen Angioödem in der Vergangenheit brauchen daher unbedingt einen Notfallausweis und eine Notfallmedikation für mindestens zwei Attacken, die sie zu Hause für Notfälle (ggf. für den eintreffenden Notarzt) parat haben und wenn möglich auf Reisen mitführen sollten.
Etwas mehr Zeit als bei Anaphylaxie und Angioödem bleibt bei Menschen mit Erythema exsudativum multiforme (EEM) majus, Steven-Johnson-Syndrom (SJS) oder toxischer epidermaler Nekrolyse (TEN). Beim EEM sieht man noch typische Kokarden, beim SJS nur noch atypische Kokarden mit weniger als drei Zonen, die unschärfer begrenzt, großflächiger und konfluierend sind, erklärte Dr. Ständer. „Wenn Sie irgendwo einen gräulichen Farbton sehen, müssen Sie daran denken, dass das schon ein Hinweis auf eine beginnende Nekrolyse sein könnte“, fügte er hinzu. Die Prognose der TEN lässt sich über den SCORTEN-Score (siehe Kasten) einschätzen, der innerhalb der ersten fünf Tage erhoben werden sollte. „Sie sollten dieses Krankheitsbild nicht unterschätzen“, warnte Dr. Ständer.
SCORTEN schätzt Letalität ab
Der SCORe of Toxic Epidermal Necrolyses hilft bei der Abschätzung der Letalität. Jeweils einen Punkt gibt es für:
- Alter ≥ 40 Jahre
- Herzfrequenz ≥ 120 /min
- maligne Grunderkrankungen
- Hautablösung ≥ 10 % der Körperoberfläche am ersten Tag
- Serum-Harnstoff ≥ 28 mg/dl
- Serum-Bikarbonat < 20 mEq/l
- Serum-Glukose ≥ 250 mg/dl
Ab einem Punktwert von 2 liegt die Letalität bereits bei 12 %, betonte Dr. Ständer, das ist bereits bei einem Alter ab 40 Jahren und einer malignen Grunderkrankung erreicht. Bei drei Punkten steigt sie auf 36 %, bei vier auf knapp 60 % und bei über vier Punkten überleben weniger als 10 % der Betroffenen.
Auch in diese zweite „Notfallgruppe“ und zu den Differenzialdiagnosen von EEM, SJS und TEN gehört das staphylococcal scalded skin syndrome (SSSS), das sich klinisch meist mit einem eher trockenen, schuppenden Bild ohne Beteiligung der Schleimhäute zeigt. Die Letalität liegt bei Erwachsenen, bei denen oft parallel eine Immundefizienz vorliegt, bei über 60 % (Kinder < 5 %), betonte Dr. Ständer.
Das toxische Schock-Syndrom (TSS) kann durch Staphylokokken oder Streptokokken ausgelöst werden. Bekannt ist das staphylokokkeninduzierte TSS vor allem in Bezug auf die Verwendung von Tampons. Aber auch nasale Tamponaden, eine chronische Sinusitis und Wunden kommen als auslösender Faktor infrage. Streptokokken-TSS entstehen meist in der Folge von Weichteilinfekten wie einem Erysipel oder einer nekrotisierenden Fasziitis. Die Symptome (Fieber, Myalgie, Übelkeit, Hypovolämie, feinmakulöses Exanthem, Schuppung an Händen und Füßen) treten innerhalb von 24–48 h auf. Ein weiterer Vertreter aus dieser Notfallgruppe ist das Ekzema herpeticatum.
Histamin oder Bradykinin?
Typische Symptome der beiden verschiedenen Angioödemformen, die bei der Unterscheidung helfen können:
Histamininduziert:
- meist Pruritus
- häufig Qualddeln/Urtikaria
- Maximum wird nach etwa 6 h erreicht
Bradykinininduziert: - Schmerz/Spannungsgefühl
- kein Pruritus
- keine bis wenig Quaddeln/Urtikaria
- oft schmerzhafte abdominelle Krämpfe
- häufiger Larynxödeme
Ähnlich dringend sind Verbrennungen und Fremdkörpereinsprengungen. Brandverletzte landen natürlich nur selten in der dermatologischen Praxis. Eine Ausnahme können therapieinduzierte Verbrennungen sein, z. B. wenn Behandelte nach einer PUVA die Warnungen bezüglich der Sonnenexposition nicht ernst nehmen. Zu Fremdkörpereinsprengungen kommt es vor allem um die Silvesterzeit. Aufgrund der drohenden Narbenbildung, Fremdkörperreaktionen und der meist vorliegenden Augenbeteiligung sollten Betroffene innerhalb von 24–48 h behandelt (Ausbürsten oder Abrasion plus antiseptische/steroidhaltige Externa) werden und sollte eine ophthalmologische Mitbeurteilung erfolgen, riet Dr. Ständer.
Quelle: Kongressbericht DDG-Tagung Berlin
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