
Prof. Dr. Karin Jordan und Dr. Franziska Jahn stellen die S3-Leitlinie vor

Diese Zahlen stehen für die neue S3-Leitlinie Supportive Therapie: 57 Fachgesellschaften, Arbeitsgemeinschaften und Organisationen, 70 stimmberechtigte Mandatsträger:innen, 1.235 Seiten. In 481 Empfehlungen und Statements wird der Stand der Dinge vermittelt, was heißt, dass „die Supportivtherapie viel zu sagen hat“, konstatierte Leitlinienkoordinatorin Prof. Dr. Karin Jordan, Ernst-von-Bergmann Klinikum Potsdam, gleich zu Beginn ihres Vortrags. Die Erstellung der Leitlinie sei aber „ein riesen Kraftakt“ gewesen.
Ein Manko: „Es ist schwierig, die Evidenz zu bewerten“, räumte sie ein. Denn Fallzahlen seien im Bereich der Supportivtherapie nun einmal nicht so groß wie beispielsweise in Untersuchungen zum Mammakarzinom. Es gebe aber viele Studien, was sich in der Fülle der Literaturnachweise widerspiegelt.
Die vorgestellte Fassung der Leitlinie beinhaltet nicht nur Aktualisierungen in unterschiedlichen Themenbereichen, sondern auch vier gänzlich neue Kapitel:
- Autoimmune Erkrankungen als Nebenwirkungen
- Kardiotoxizität
- Zentrale Neurotoxizität
- Radiogene Nebenwirkungen am Urogenitaltrakt
Die Expertin ging darauf ein, welche Änderungen und Ergänzungen in den verschiedenen Bereichen von Bedeutung sind.
Chemotherapie-induzierte Anämie
Prof. Jordan betonte, dass nach wie vor Erythropoese-stimulierende Substanzen (ESA), i. v. Eisen plus ESA sowie die Transfusion eine Rolle spielen in der Behandlung der Chemotherapie-induzierten Anämie. Für das stationäre Setting hatte sie eine klare Empfehlung: „Wir transfundieren nur ein Erythrozytenkonzentrat.“ An diesem Punkt kam sie erneut auf die Evidenz zu sprechen: Es sei schwierig gewesen, die Reduktion auf nur ein Konzentrat in die Praxis umzusetzen, auch wenn es eine Arbeitserleichterung bedeutet. Ihr sei oft aufgefallen, dass weiterhin zwei Konzentrate gegeben werden, denn „das wurde doch immer so gemacht“. Für sie ein klares Beispiel, dass Veränderung immer Arbeit bedeutet.
Wann ist eine G-CSF-Prophylaxe bei febriler Neutropenie indiziert?
Die Risikoklassifizierung im Bereich der febrilen Neutropenie wurde angepasst. Aktuell werden vier Klassen unterschieden, von denen Klasse 1 und 2 laut Leitlinie prophylaktisch eine G-CSF-Gabe erhalten.
Risikoklassifizierung der febrilen Neutropenie | |
---|---|
Risikoklasse | Risiko der febrilen Neutropenie |
1 | ≥ 20 % |
2 | ≥ 10–20 % mit individuellen Risikofaktoren |
3 | 10–20 % ohne individuelle Risikofaktoren |
4 | < 10 % |
Eine Aktualisierung gab es auch für erwachsene Patient:innen mit AML. Hier kann eine prophylaktische G-CSF-Gabe erfolgen bei Personen, die eine Induktions- oder Konsolidierungs-Chemotherapie erhalten.
Update zu Tumortherapie-induzierter Hauttoxizität
Im Folgenden ging Prof. Jordan auf eine Änderung im Bereich des akneiformen Exanthems ein. Die Empfehlung lautet: Ein topisches Glukokortikoid kann zur Prophylaxe des akneiformen Exanthems für bis zu 30 Tage erwogen werden. „Es ist neu, dass wir auch mittelpotente bis niederpotente lokale Steroide einsetzen können“, so die Vortragende.
Nagelveränderungen sind für Patient:innen häufig eine belastende Nebenwirkung. Hier habe die Kühlung einen Stellenwert. Diese kann während der Docetaxel-Infusion als Prophylaxe einer Nagelveränderung erfolgen. Für andere Substanzen liege keine Evidenz vor.
Neu aufgenommen wurde die Empfehlung für Omalizumab zur Behandlung des therapierefraktären Pruritus. Prof. Jordan wies darauf hin, dass alle Empfehlungen jetzt einen Hinweis enthalten, ob ein Off-Label-Use vorliegt. Dies sei auch bei Omalizumab der Fall.
Tumortherapie-induzierte Nausea und Emesis
Bezüglich der oralen Tumortherapie wurde eine neue Einteilung der Emetogenitätsgrade eingeführt in hoch/moderat (≥ 30 %) und gering/minimal (< 30 %). Alle seit 2017 zugelassenen Tumortherapeutika sind gemäß dieser Einteilung bewertet.
Modifiziert wurde die Empfehlung zur Olanzapin-Gabe. Das Medikament (5 mg) kann bei hoch emetogener Chemotherapie zusätzlich zur Kombination aus einem 5-HT3-Rezeptorantagonisten, einem NK1-Rezeptorantagonisten und Dexamethason gegeben werden (off label). Zudem soll bei einer hoch emetogenen eintägigen medikamentösen Tumortherapie mit einem Emesis-Risiko ≥ 90 % vor der medikamentösen Tumortherapie eine Prophylaxe mit einem 5-HT3-Rezeptorantagonisten, einem NK1-Rezeptorantagonisten und Dexamethason erfolgen. „Das muss wirklich im Klinikalltag umgesetzt werden“, bekräftigte Prof. Jordan.
Prophylaxe und Therapie der Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie
Neu eingeführt wurde die Empfehlung, dass Patient:innen zur Reduktion der Inzidenz und/oder des Schweregrads einer Taxan-induzierten PNP prophylaktisch mit einer Kryo- oder Kompressionstherapie behandelt werden können. Allerdings kündigte Prof. Jordan bereits die nächste Änderung an, da die Ergebnisse einer auf der Jahrestagung der ASCO vorgestellten neuen Studie Einfluss auf die Empfehlung haben werden.
Pregabalin zur Behandlung neuropathischer Schmerzen bei Chemotherapie-induzierter Polyneuropathie sollte angeboten werden, lautet ein modifiziertes Statement. Wichtig sei, was genau unter neuropathischem Schmerz verstanden wird, nämlich alle unangenehmen sensiblen Plus-Symptome wie Brennen, Ziehen, Drücken, Bohren oder Reißen, die infolge einer Schädigung am somatosensiblen Nervensystem entstehen. „Denn nur diese können wir behandeln“, erinnerte Prof. Jordan. Das von vielen beklagte Taubheitsgefühl oder schmerzloses Kribbeln gehören nicht dazu.
Paravasate: Wenn Erfahrungswissen gefragt ist
Wie Dr. Jahn in ihrem Vortrag betonte, ist es schwierig, im Studiensetting belastbare Informationen zu Paravasaten zu sammeln. Deshalb sei es wichtig, eigene Erfahrungen aus der Praxis zu teilen. Im Laufe der Diskussion kam die Frage auf, ob es eine zentrale Anlaufstelle gibt, um dies zu tun. Die klare Antwort: Nein. Man solle aber unbedingt an die entsprechenden Firmen zurückmelden, wie sich – vor allem neue – Präparate in Bezug auf Paravasate verhalten.
Klinische Herausforderungen bei Ototoxizität
Ein Punkt mit viel Diskussionspotenzial war diese Empfehlung: Zur Beurteilung einer möglichen Ototoxizität soll bei Patient:innen, die eine cisplatinbasierte Chemotherapie erhalten, vor Start der Therapie und bei Auftreten subjektiver Beschwerden eine Tonaudiometrie mit dem Frequenzspektrum 500–8.000 Hz erfolgen. Einerseits für den Patienten bzw. die Patientin hoch relevant, andererseits schwer umzusetzen im Klinikalltag – so lauteten die Argumente für bzw. gegen die Tonaudiometrie. Letztlich sei die Empfehlung aber in die Leitlinie aufgenommen worden.
Welche Maßnahmen lindern eine orale Mukositis effektiv?
Die orale Kryotherapie, sprich das Lutschen von Eiswürfeln, sollte zur Prophylaxe der oralen Mukositis bei Patient:innen mit HSZT mit Hochdosis-Melphalan (mit oder ohne Ganzkörperbestrahlung) angewendet werden, heißt es in einer modifizierten Empfehlung. „Da muss ich zum Beispiel schon an unsere Nase fassen, wenn ich die Häufigkeit von Eiswürfeln auf unseren Stationen evaluiere“, gab die zweite Leitlinienkoordinatorin Dr. Franziska Jahn, Universitätsmedizin Halle, zu. Allgemein sei im Bereich Mukositis aber keine große Veränderung zu verzeichnen.
So steht es um die Chemotherapie-induzierte Diarrhö
„Ich denke, wir testen alle mittlerweile vor 5-FU-haltiger Therapie auf bestimmte Genmutationen“, sagte die Referentin. Als eine der wenigen A-Empfehlungen in diesem Bereich sei deshalb auch neu aufgenommen worden, dass Patient:innen vor solch einer Behandlung auf die vier häufigsten genetischen DPYD-Varianten getestet werden sollen.
In einem Bereich wurde die Empfehlung im Vergleich zur vorherigen Leitlinienfassung abgeschwächt: Eine Prophylaxe mit Pro-, Prä- und Synbiotika wird nicht mehr empfohlen. Grund dafür ist eine zu schwache Datenlage, erläuterte Dr. Jahn.
Wie wird die Kardiotoxizität jetzt systematisch berücksichtigt?
Die Kardiotoxizität zählt zu den Themen, die ganz neu als eigenständiges Kapitel in die Leitlinie aufgenommen wurden. Wie die Referentin schilderte, befindet sich eine ausführliche Tabelle in der Leitlinie, in der alle (auch neue) Tumortherapeutika mit ihren entsprechenden Risiken für Kardiotoxizitäten aufgeführt sind. Dr. Jahn lobte die Zusammenarbeit mit den Kardiolog:innen, die notwendig war, um dieses Kapitel in der Art und Weise aufzuarbeiten, wie es nun zur Verfügung steht.
Sexualität nach Radiotherapie: Ein Tabuthema fällt
„Ich glaube, dass wir die Frage nach dem Thema erektile Dysfunktion beim Mann oder auch bei der Frau nach wie vor viel zu selten stellen“, warf die Vortragende in den Raum. Studiendaten würden zeigen, dass eine nicht zu vernachlässigende Anzahl Patient:innen von dem Thema betroffen ist. Sie betonte, dass eine Prophylaxe der erektilen Dysfunktion mit Phosphodiesterase-5-Inhibitoren nicht erfolgen sollte. Als Therapie hingegen sollte das Mittel dann eingesetzt werden, wenn eine erektile Dysfunktion nach Strahlentherapie vorliegt.
Auch bei weiblichen Dysfunktionen sei es wichtig, die Patientinnen anzusprechen und Raum für die Thematik zu schaffen. Vaginaldilatatoren können zur Therapie und Prophylaxe von Vaginalstenosen nach beendeter Bestrahlung im Beckenbereich und Abklingen der akuten Strahlenfolgen eingesetzt werden, heißt es dazu in der Leitlinie. Ein weiteres Statement besagt, dass zur Behandlung von Symptomen einer Vaginalatrophie bei Patientinnen nach beendeter Bestrahlung im Beckenbereich topisches Östrogen sowie inerte Gleitgele oder Cremes zur Verfügung stehen.
Quelle:
Jordan K, Jahn F. AGSMO Jahreskongress 2025; Brennpunkt-Thema: Neue S3-Leitlinie Supportive Therapie
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