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Arzt zeigt Euthanasie-Verdacht an und scheitert vor EU-Gerichtshof

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Hinweisgeber müssen derzeit ein hohes Risiko für sich einkalkulieren. Die EU drängt auf umfassenden Schutz. Hinweisgeber müssen derzeit ein hohes Risiko für sich einkalkulieren. Die EU drängt auf umfassenden Schutz. © Victor Moussa – stock.adobe.com
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Darf man gravierende Fehler seines Vorgesetzten anzeigen? Was ist Verleumdung, wo setzt der Arbeitsvertrag Grenzen, wo beginnt öffentliches Inte­r­esse? Immer wieder stehen Hinweisgeber vor Problemen, wenn sie Missstände öffentlich machen.

Erst kürzlich prüfte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den Fall eines Facharztes für Allgemein- und Innere Medizin, der seinen Vorgesetzten wegen Euthanasie angezeigt hatte und deshalb entlassen worden war. Registriert ist der Fall unter „Gawlik v. Liechtenstein (application no. 23922/19)“. Gemeint ist Dr.­Lothar Gawlik, Jahrgang 1967, wohnhaft in Kassel – nachzulesen in der Pressemitteilung des EGMR vom 16. Februar 2021.

Das Geschehen, um das es geht, liegt Jahre zurück und passierte außerhalb von Deutschland: Dr. Gawlik arbeitete als stellvertretender Chefarzt für Innere Medizin am Landesspital Liechtenstein. Nach Hinweisen einer Kollegin und anhand der elektronischen Patientenakten entstand bei ihm der Verdacht der aktiven Sterbehilfe durch den Chefarzt. Dr. Gawlik meldete im September 2014 seine Vermutung der Staatsanwaltschaft. Es folgten polizeiliche Ermittlungen und zahlreiche Medienberichte. Daraufhin wurde der stellvertretende Chefarzt zuerst suspendiert, im Oktober 2014 fristlos entlassen mit der Begründung, nicht zuerst das interne Beschwerdesystem genutzt zu haben.

Offengelegte Informationen von öffentlichem Interesse

Ein interner und auch ein externer Bericht entkräfteten die Vorwürfe gegen den Chefarzt, auch das Strafverfahren gegen ihn wurde eingestellt. Eingestellt wurde auch ein Strafverfahren wegen des vorsätzlich falschen Verdachts gegen Dr. Gawlik. Er, der sich als Whistleblower sieht, verklagte schließlich das Hospital wegen der Entlassung auf 600.000 Schweizer Franken Schadensersatz. 2017 wurde die Klage abgewiesen. Im Berufungsverfahren wurden ihm zwar 125.000 Franken Gehalt zuerkannt. Der Oberste Gerichtshof hob das Berufungsurteil jedoch 2018 auf. Eine Verfassungsbeschwerde wurde auch abgewiesen.

Die Richter betonten zwar, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung auch im Verhältnis zwischen Dr. Gawlik und dem Hospital gelte. Dem Arzt wurde allerdings vorgehalten, dass er nicht auch die Papierakten gesichtet hatte, bevor er den Verdacht öffentlich machte. Er habe versäumt, seine schwerwiegenden und ungerechtfertigten Behauptungen zu überprüfen.

2019 reichte Dr. Gawlik Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof ein. Seine Entlassung wegen der Strafanzeige habe seine Rechte auf freie Meinungsäußerung verletzt, argumentierte der Arzt. Sieben Richter prüften seinen Fall. Der Beschwerdeführer habe aus ehrenwerten Motiven gehandelt und er habe Leib und Leben der Patienten schützen wollen, hieß es. Auch seien die offengelegten Informationen von erheblichem öffentlichem Interesse. Recht bekam Dr. Gawlik dennoch nicht. Die Entlassung sei gerechtfertigt gewesen, insbesondere angesichts der Auswirkungen auf den Ruf des Krankenhauses und eines weiteren Mitarbeiters. Einen Verstoß gegen Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung, stellte das Gericht nicht fest.

2010 hatte der EMGR nach einer Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland in einer Grundsatzentscheidung die Pflicht des Arbeitnehmers zu Loyalität, Zurückhaltung und Vertraulichkeit gegenüber seinem Arbeitgeber betont und den Gang an die Öffentlichkeit als „letztes Mittel“ bezeichnet.

In diesem Fall (EMGR 28274/08) ging es um eine Beschwerde von Brigitte ­Heinisch. Weil die Altenpflegerin eine Strafanzeige wegen Mängeln in der institutionellen Pfle­ge stellte, war ihr von einem Unternehmen des Berliner Klinikkonzerns Vivantes fristlos gekündigt worden. Deutsche Gerichte hatten sich in ihren Kündigungsschutzverfahren geweigert, die Weiterbeschäfti­gung anzuordnen. „Artikel 10 der Konvention ist verletzt worden“, hieß es in diesem Fall seitens des EMGR. Zahlen musste der Arbeitgeber 10.000 Euro für den immateriellen Schaden sowie 5000 Euro für Kosten und Auslagen.

Wer sich jetzt fragt, ob er als Arbeitnehmer einen Verdacht auf gravierende, vielleicht sogar strafrechtlich relevante Missstände am Arbeitsplatz anzeigen soll, wird angesichts unterschiedlicher Rechtsprechung und langwieriger Verfahren vielleicht zum Schluss kommen, es besser nicht zu tun. Mit der Entscheidung sei eine Tür aufgestoßen worden, die er für extrem gefährlich halte, erklärte Dr. Gawliks Anwalt ­Benedikt Hopmann gegenüber der „FAZ“. Der Whistleblower wisse nicht, ob er nun zur Staatsanwaltschaft gehen dürfe oder nicht. Louisa Schloussen von Transparency Deutschland mahnt, es dürfe nicht dazu kommen, dass trotz alarmierender Hinweise vor einer Anzeige weitere Nachforschungen anzustellen und vom Hinweisgeber Aufgaben der Staatsanwaltschaft zu übernehmen seien.

Bis Jahresende muss die Bundesregierung handeln

Mit ihrer Richtlinie 2019/1937 vom 23. Oktober 2019 forciert die Europäische Union „den Schutz von Personen, die in ihrem Arbeitsumfeld Verstöße gegen geltendes EU-Recht melden“. Bis 17. Dezember 2021 sollen die Kriterien in das nationale Recht der Mitgliedsstaaten eingehen. 21 von 27 Ländern haben die Diskussion dazu begonnen, wie das „EU Whistleblowing Meter“ zeigt.

Das Bundesjustizministerium hat Ende 2020 einen Referentenentwurf für ein entsprechendes Gesetz veröffentlicht bzw. zur Abstimmung an die Ressorts geschickt. Ziel ist eine Hinweisgeberschutz-Richtlinie. Vorgesehen sind hierin zwei gleichwertig nebeneinander stehende Meldewege, zwischen denen Hinweisgeber frei wählen können: intern im Unternehmen oder extern per Behörde. Auch sollen hinweisgebende Personen umfangreich vor Repressalien wie Kündigung oder sonstigen Benachteiligungen geschützt werden.

Zwei Informationswege geplant

Laut Entwurf eines Gesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sollen nach dem Willen des Bundesjustizministeriums Missstände sowohl im Unternehmen als auch in einer Behörde gemeldet werden können. Wer sich direkt an die Öffentlichkeit wendet, zum Beispiel über soziale Netzwerke oder die Medien, könnte allerdings nur in bestimmten Fällen geschützt sein, z.B. wenn eine externe Meldung an die zuständige Behörde fruchtlos war. Vorgesehen sind zum Hinweisgeberschutz auch Vorgaben zu verbotenen Repressalien. Darunter fallen Suspendierung, Entlassung, Kündigung oder auch die Verweigerung von Weiterbildung. Verpflichtende Vorgaben für den Umgang mit anonymen Hinweisen soll die per Gesetz angestrebte Hinweisgeberschutz-Richtlinie nicht beinhalten. Weder interne noch externe Meldestellen sollen verpflichtet werden, technische Mittel oder Verfahren für anonyme Meldungen vorzuhalten.

Die Vertraulichkeit zur Identität der Hinweisgeber stehe an vorderster Stelle, heißt es weiter im Gesetzentwurf. Unbefugte Personen sollen demnach – auch wenn sie im selben Unternehmen bzw. in derselben Behörde arbeiten – keinen Zugriff auf Dokumente wie E-Mail-Verläufe haben dürfen, welche Rückschlüsse auf die Identität der Hinweisgeberin oder des Hinweisgebers zulassen könnten.

Medical-Tribune-Bericht

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