Zwischen Frust und falschem Anspruch Über Vollkaskodenken in der Medizin

Aus der Redaktion Autor: Kathrin Strobel

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Die Hausarztpraxis sei desorganisiert, das gewünschte eRezept nicht auf der Karte. Am Apothekentresen äußern Patientinnen und Patienten häufig ungeschönt ihren Unmut über das System. Berechtigt? Ein Kommentar.

Ich betrete die Apotheke in unserem Ort. Am Tresen steht bereits eine Kundin, ich stelle mich hinter sie in die Schlange. Sie wirkt aufgebracht, irgendetwas scheint mit dem eRezept auf ihrer Versichertenkarte nicht zu stimmen. „Ist da der Betablocker drauf?“, fragt sie den Angestellten. „Nein, nur das Diuretikum, das Sie einnehmen.“ – „Das gibt’s ja nicht!“

Die Frau ärgert sich sichtlich und lässt ihrem Unmut freien Lauf – über die „unfähigen“ Mitarbeitenden ihrer Hausarztpraxis, über „das mit der Karte“, das „einfach nie funktioniert“. Sie habe schließlich mehrmals angerufen, „und jetzt ist es nicht drauf!“. Der Angestellte bleibt ruhig, erklärt geduldig, dass sich das klären lasse und sie ihr Medikament natürlich bekomme. Doch sie schüttelt weiter entrüstet den Kopf.

Nach einigem Hin und Her beruhigt sie sich etwas und erzählt: „Wissen Sie, ich wollte jetzt mal einen Termin bei meinem Hausarzt machen. Damit der mich auch mal wieder sieht. Der sieht mich ja gar nicht mehr.“ Ich übersetze im Kopf: Sie hat keine Beschwerden, sie will einfach mal wieder zum Arzt. Der Apothekenangestellte lächelt höflich, sie aber nimmt Anlauf für den nächsten Aufreger. „Und wissen Sie, wann ich einen Termin bekommen habe?“ Ich denke: wahrscheinlich frühestens im Januar – schließlich hat sie nichts. „In vier Wochen!“, ruft sie. „Ist das nicht unglaublich?!“ „Unglaublich“, bestätigt der Angestellte.

Ehrlich gesagt hätte ich mir an dieser Stelle eine andere Antwort gewünscht. Eine, die den Alltagswahnsinn höflich, aber kritisch einordnet. Wir haben uns an die Vollkaskomedizin gewöhnt. Gesundheit soll jederzeit abrufbar, der Arzt auf Zuruf verfügbar sein. Wenn das System nicht sofort liefert, liegt der Fehler natürlich bei den anderen – bei der Praxis, der Kasse, „denen da oben“. Die Medizin ist zur Dienstleistung geworden mit Kundinnen und Kunden, die ihr Reklamationsrecht einfordern. Wer warten muss, fühlt sich benachteiligt, wer nichts hat, will trotzdem „gesehen werden“. Vielleicht sollten wir als Gesellschaft wieder lernen, dass nicht jedes „Ich will“ automatisch ein „Ich brauche“ ist. Und das eigene Anspruchsdenken ab und zu hinterfragen.

Quelle: Medical-Tribune-Bericht