Praxiskolumne Von Seminotfällen, Langeweile und Sinnlosigkeit

Kolumnen Autor: Franziska Hegedüs

Ein Mittwochnachmittag wie so viele Mittwochnachmittage: ein KV-Sitzdienst. Obwohl das nächstgelegene Krankenhaus von unserer Praxis nur 20 Minuten entfernt liegt, fahre ich fast eine Stunde in die Kassenärztliche Bereitschaftspraxis Ein Mittwochnachmittag wie so viele Mittwochnachmittage: ein KV-Sitzdienst. Obwohl das nächstgelegene Krankenhaus von unserer Praxis nur 20 Minuten entfernt liegt, fahre ich fast eine Stunde in die Kassenärztliche Bereitschaftspraxis © photowahn - stock.adobe.com

Ein Mittwochnachmittag wie so viele Mittwochnachmittage: ein KV-Sitzdienst. Obwohl das nächstgelegene Krankenhaus von unserer Praxis nur 20 Minuten entfernt liegt, fahre ich fast eine Stunde in die Kassenärztliche Bereitschaftspraxis – selbst schuld, dass ich mir eine Praxis an der äußersten Grenze unseres Kreises ausgesucht habe. Um pünktlich zu sein, muss ich die Praxis quasi eine Stunde früher schließen. Dann über die staugeplagte Autobahn. 

Endlich angekommen. Vor Ort: niemand. Die Druckertrommeln müssen getauscht werden. Es gibt keine Verantwortlichen. Also selbst machen. Ist ja Zeit. 

Da endlich kommt jemand. Ich in vollem Eifer – der Notfall kommt! Sie tritt ein. Die Sporttasche in der Hand, leicht humpelnd. Also, vielleicht doch nur ein halber Notfall. Also einer, der kein Notfall für die Notaufnahme ist, aber nicht bis morgen warten kann. Der Semi-notfall. Sie hat Knieschmerzen seit vier Wochen. Ob sie jetzt ins Fitnessstudio gehen könne. Müsse ja mal abgeklärt werden. 

Da ist er wieder, mein Lieblingssatz – den hatte ich ja schon mal erwähnt. Denn da macht mein Herz immer diesen kleinen Hüpfer: „Ich möchte das mal abgeklärt haben.“ Und ich überlege derweil fieberhaft, ob ich nicht doch vielleicht einen klitzekleinen Seminotfall übersehe. Er muss doch irgendwo ... – ich finde ihn nicht.

Weiter geht es mit wunderbarer Langeweile. Endlich Zeit für ein Buch. Doch nein, da kommt schon die nächste! Brustschmerzen. Hatte sie schon letzte Woche. Da war sie beim Hausarzt, da war alles gut. Jetzt ist es wieder da. Das müsste man schon mal abklären. Herz hüpft. Gern. Ein EKG können wir machen. 

Und dann kommt, fünf Minuten vor Dienstende, die junge Dame mit Magen-Darm-Beschwerden. Sie mag ihren Hausarzt nicht. Einen neuen finde sie nicht. Deswegen komme sie lieber hierher. 

Im Fahrdienst einige Tage später dann fünf Einsätze. Wenig zu tun, aber viel Fahrerei. Wofür nochmal? Die Obstipation seit mehreren Tagen, die erst nach Hausarztpraxisschließzeit für Beunruhigung sorgt. Der Blasenkatheter im Pflegeheim, der geplant abends gezogen wird. Der Pflasterwechsel nach Hüft-TEP. Der Pneumoniepatient, der am Ende doch in die Klinik muss. Der Sinn erschließt sich mir nicht. Außer vielleicht, man möchte die hintersten Winkel der Region kennenlernen, bevorzugt im Dunkeln. 

Medizinische Hilfe auf Abruf. Teils mit doppeltem Boden, erst der Kassenärztliche Bereitschaftsdienst, dann doch der Rettungsdienst. Die Hilferufenden wissen oft gar nicht, von wo die Ärztinnen und Ärzte angefahren kommen. Sie können sich nicht vorstellen, dass man mehr im Auto sitzt als Patientinnen und Patienten zu sehen. Wenn es das Angebot schon gibt, dann wird es gern angenommen. Und man entlastet ja das System, indem man nicht gleich in der Notaufnahme aufschlägt.

Die Praxen werden trotzdem nicht entlastet. Denn dort muss sich die Patientin, der Patient wegen des Seminotfalls – dessen Genese und Therapie im Seminotfall-Setting am Wochenende natürlich nicht geklärt werden konnte – trotzdem am Montag vorstellen.

Andersrum wird ein Schuh daraus. Denn das Dienst-System belastet. In den Großstädten werden die KV-Praxen überrannt, der Rettungsdienst läuft am Limit. Auf dem Land herrscht vielleicht Samstagmorgen und an Brückentagen Hochbetrieb. Aber sonst überwiegt oft Langeweile oder man vertreibt sich die Zeit eben mit Seminotfällen. Auf dem Papier sind es wenige Patientinnen und Patienten, an beschäftigter Arbeitszeit ist es sehr viel. Die Vergütung dafür passt nicht. Und vor allen Dingen: Das Gefühl, sinnvolle Arbeit getan zu haben, will sich so nicht einstellen. 

Vielleicht kann die Telemedizin künftig entlasten. Und bis dahin halte ich mich an dem ein oder anderen dankbaren Lächeln einer Patientin, eines Patienten fest.