Magersucht durch reduzierte Dichte der grauen Substanz verursacht?

Josef Gulden, Foto: thinkstock

Mit kernspintomographischen Methoden wurde bei Magersüchtigen eine Minderung der grauen Substanz in einem Hirnareal nachgewiesen, das eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung des menschlichen Körpers spielt. Das strukturelle Pendant der Körperschemastörung?

In Untersuchungen mit der funktionellen Kernspintomographie (fMRT) hat man eine reduzierte Aktivierung in der sogenannten „Extrastriate Body Area“ (EBA) bei Anorexie-Patientinnen gefunden. Die EBA liegt im okzipito-temporalen visuellen Kortex und ist auf die visuelle Wahrnehmung menschlicher Körper und die Verarbeitung dieser Informationen spezialisiert.


Zur Morphologie dieser Region war bislang nichts bekannt, aber weil morphometrische Messungen ergeben hatten, dass das anteriore Cingulum, das ebenfalls an der Pathogenese beteiligt zu sein scheint, sich verkleinert, haben Psychologen und Radiologen an der Ruhr-Universität in Bochum nun T1-gewichtete MRT-Bilder der Gehirne von 15 Patientinnen mit Anorexia nervosa und von 15 nach dem Alter gematchten Kontrollen mit der Methode der Voxel-basierten Morphometrie untersucht. Die Kollegen konzen­trierten sich dabei insbesondere auf die EBA; um diese korrekt zu lokalisieren, wurde außerdem eine funktionelle MRT durchgeführt, während die Probandinnen Bilder sahen, die zu einer Aktivierung dieses Areals führen.

Magersüchtige Patientinnen verlieren Hirnvolumen und graue Substanz

Das Volumen der grauen Substanz insgesamt ebenso wie des gesamten Hirns war bei den anorektischen Patientinnen schwächer ausgeprägt, wie es angesichts des deutlichen Gewichtsunterschieds zwischen den beiden Gruppen nicht anders zu erwarten war.


Nicht unterschiedlich war hingegen das Verhältnis von grauer Substanz zum Gesamthirn. Die Voxel-basierte Morphometrie zeigte jedoch eine Reduktion der Dichte der grauen Substanz im linken okzipitalen Kortex bei Frauen mit Anorexie; dieser ist im Wesentlichen mit der EBA deckungsgleich, wie die funktionellen Auswertungen bestätigten.

Körperform-Agnosie bei Anorexie durch Läsionen im okzipitalen Kortex?

Ein zweiter Fokus mit einer Abnahme der grauen Substanz wurde im Gyrus temporalis superior entdeckt. Die Dichte der grauen Sub­stanz in der linken EBA war bei den anorektischen Patientinnen umso mehr vermindert, je schlechter sie ihre eigenen Körpermaße einschätzen konnten und je stärker die Aktivierung der EBA in der funktionellen MRT ausfiel. Dieser auf den ersten Blick überraschende und kontraintuitive Zusammenhang könnte dadurch zustande kommen, dass die Reduktion in der grauen Substanz durch eine gesteigerte Aktivität kompensiert wird.


Läsionen im okzipitalen Kortex, die die EBA betreffen, verursachen – das ist in anderen Arbeiten nachgewiesen worden – Defizite in der Körpererkennung, für die kürzlich die Bezeichnung Körperform-Agnosie geprägt wurde. Dies spricht dafür, dass die Dichteabnahme in der EBA tatsächlich kausal mit einer mangelhaften Beurteilung der Körpermaße durch Anorexie-Patientinnen zusammenhängt. Offenbar liegt also wirklich ein Defizit in der Informationsverarbeitung vor und weniger ein Defizit der Aufmerksamkeit im Sinne etwa eines Neglect-Syndroms.

Sind die Hirnveränderungen Ursache oder Wirkung der Magersucht?

Freilich bleibt unklar, wie die Kausalität gerichtet ist: Es wird nicht einfach sein, zu zeigen, ob die morphologischen Veränderungen bereits vor Beginn der Erkrankung vorliegen und damit möglicherweise eine ätiologische Bedeutung haben. Von der posttraumatischen Stress-Störung weiß man beispielsweise, dass traumatische, stressreiche Erfahrungen eine Volumenreduktion im Hippocampus bewirken, die sich dann klinisch entsprechend auswirkt. Ob Anorexie-Patientinnen ähnliche Stresserlebnisse hinter sich haben, ist unbekannt.

Interventionen bei Patientinnen mit Anorexia nervosa mit Vorsicht zu genießen

Umgekehrt könnte verstärkter oder Mindergebrauch von Teilen des Gehirns auch zu einer Größenänderung führen. Das Hirn ist flexibel und reagiert so auf spezifische Stimulation. Man kann daher diskutieren, so die Autoren, dass körperbezogenes Vermeidungsverhalten, möglicherweise verstärkt durch negative Emotionen wie Angst und Abscheu, wie Patienten mit Ess-Störungen sie beim Anblick ihres eigenen Körpers erfahren, zu einer Abnahme an grauer Substanz führen kann – im Fall von Patientinnen mit Anorexia nervosa zur Abnahme der Dichte in der EBA.


Wenn dem so wäre, könnten Interventionen, bei denen die Patientinnen wiederholt dem Bild ihres eigenen Körpers ausgesetzt werden, diesen Prozess vielleicht sogar verstärken.


Quelle: Suchan B et al., Behav Brain Res 2010; 206: 63–7

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