Mentale Gesundheit von Ärzten: Mein Name ist Dr. Hill und ich bin Alkoholiker

Viele Monate lang fühlte sich Dr. Adam B. Hill überarbeitet, ignoriert, missbraucht, unterschätzt. Ihm schien es, als habe er seine Identität verloren. Er rutschte in eine schwere Depression, versuchte mithilfe etlicher Drinks nachts Schlaf zu finden. An einem Herbstabend saß er im Stadtpark, weit weg von zu Hause, und beschloss seinen Suizid. Zum Glück setzte er den Plan nicht um. Doch es dauerte Jahre, bis er wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
„Ich bin ein Überlebender in einer anhaltenden Epidemie von Ignoranz gegenüber der mentalen Gesundheit von Ärzten“, schreibt Dr. Hill, der an der Indiana University School of Medicine, Indianapolis, in der pädiatrischen Palliativversorgung tätig ist, im „New England Journal of Medicine“. Allein im letzten Jahr habe er zwei Kollegen durch Selbsttötung verloren. Ein System von Hindernissen und Barrieren sorge nach wie vor dafür, dass psychisch kranke Ärzte nicht die Hilfe erhielten, die sie so dringend bräuchten.
Im vergangenen Jahr entschied er, nicht länger dabei zuzusehen, wie Freunde und Kollegen still vor sich hin litten, und brachte seine eigene Krankheit im Vortragssaal aufs Tapet. Und das Auditorium hörte zu, ruhig, respektvoll, mitfühlend – und honorierte seinen Mut letztlich mit Standing Ovations.
Bis Dr. Hill so weit war, sich zu „outen“, musste er nach eigenem Bekunden allerdings die folgenden sechs Lektionen lernen:
1. Lektion: Selbstfürsorge
Man braucht einen Plan, um mit dem harten und stressigen Arztberuf leben zu können, schreibt der Kollege. Dies setze voraus, die eigenen Gefühle, Stressauslöser und seine Grenzen sowohl im Arbeits- als auch im privaten Leben zu erkennen und Prioritäten zu setzen. Er musste lernen, sich primär um sich selbst zu kümmern, damit er sich um andere kümmern konnte. Dabei geholfen haben ihm u.a. Psychotherapien, Achtsamkeitstraining, Meditation, Sport – und heiße Duschen. Seine Devise heute: „Ich bin Mensch, Ehemann, Vater und erst dann Arzt.“
2. Lektion: Stereotypen
Alkoholiker sind Versager, Faulenzer und sie schlagen ihre Frauen – richtig? Wenn du selbst betroffen bist, ändert sich plötzlich der Blick, räumt Dr. Hill ein. In seinen Therapiesitzungen hat er die verschiedensten Menschen – vom Obdachlosen bis zum Manager – kennengelernt und die ganz individuellen Schicksale hinter der Sucht erkannt. Die Kranken würden dazu gebracht, sich „anders“, beschämt und schuldig zu fühlen, dadurch verlieren sie immer mehr menschliche Bindungen und Empathie. Öffnet sich ein Alkoholiker gegenüber seinem Arzt, sollte dieser das als Privileg und nicht als selbstverständlich ansehen, fordert der Kinderarzt.
3. Lektion: Stigmatisierung
Wenn uns psychische Probleme anderer zu nahe kommen, schauen wir lieber weg oder reagieren mit Mitleid, Scham oder Verdrängung, erklärt der Autor. Wie sei es sonst zu erklären, dass medizinische Institutionen eine Burn-out-Rate von rund 50 % bei ihren Angestellten einfach tolerieren? Sucht jemand wegen seiner psychischen Erkrankung tatsächlich Hilfe, wird dies immer noch als Schwäche interpretiert, der Kranke zum Teil an den Pranger gestellt, was auch Dr. Hill erlebte. „Diese weitverbreitete Haltung wirkt verletzend – sie tötet unsere Freunde und Kollegen.“
4. Lektion: Verletzlichkeit
Viele Ärzte verstecken ihre eigene Verletzlichkeit, weil sie negative Beurteilungen und Auswirkungen auf ihre berufliche Karriere befürchten. Doch diese Haltung ist falsch. Nach der Erfahrung von Dr. Hill bringt Authentizität mehr Vor- als Nachteile. Er zumindest bekam die gewünschte Stelle, obwohl er sich im Vorstellungsgespräch als trockener Alkoholiker und ehemals Depressiver bezeichnet hatte. Offenheit ermöglicht es, sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld die Umgebung zu finden, in der man wachsen kann, sagt der Pädiater.
5. Lektion: Patientensicherheit
Psychische Erkrankungen, Suizidgedanken und Substanzabhängigkeit kommen wahrscheinlich bei Ärzten mindestens genauso häufig vor wie in der Allgemeinbevölkerung. Dennoch machen sehr viele der Betroffenen einen guten Job. Zur Gefahr für Patienten werden nur diejenigen, die akut krank sind und aus Angst und Scham keine Hilfe suchen, betont der Palliativmediziner. Wer sich dagegen um sich selbst kümmert und erfolgreich die notwendigen therapeutischen Register zieht, ist alles andere als ein Sicherheitsrisiko.
6. Lektion: Netzwerk
„Mein Netzwerk war die Basis für meine Genesung“, unterstreicht Dr. Hill. Er rät psychisch oder suchtkranken Ärzten, sich ein solches Vertrauens-Netzwerk nach und nach aufzubauen. Klein anfangen, mit dem Ehepartner, der Familie oder Freunden, und es dann ggf. auf Berater bzw. Therapeuten, Selbsthilfegruppen und vielleicht sogar Kollegen ausweiten. Schließlich brauche man Menschen, die einen wieder aufrichten, wenn man hinfällt, die zum Weitermachen animieren und einen für das persönliche und berufliche Handeln zur Rechenschaft ziehen.
Nach der Überzeugung von Dr. Hill haben ihn die eigenen Erfahrungen mit seiner Krankheit und der lange Weg der Genesung zu einem besseren Arzt gemacht. Zwar trage er nach wie vor ein „A“ auf seiner Brust. Aber das stehe nicht mehr für „alkoholic“, „addict“ oder „ashamed“ (alkoholkrank, süchtig, beschämt), sondern nur noch für „Adam“. Und darauf ist er stolz.
Hill AB. N Engl J Med 2017; 376: 1103-1105
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