
WHO-Stufenschema: Was bei Schmerz noch gilt

Medikamentös gibt es bei Schmerzen viele Optionen. Allerdings unterscheiden sich die Substanzen hinsichtlich ihrer Wirkung auf akute, chronische und neuropathische Schmerzen. Wie setzt man sie ein und welche Rolle spielt das WHO-Stufenschema abseits der Tumorschmerzen wirklich?
Prinzipiell ist es so, dass das WHO-Stufenschema oft als der heilige Gral der Schmerzmedizin angesehen wird “, begann Prof. Dr. Andrea Michalek-Sauberer, Medizinische Universität – AKH Wien. Realistisch gesehen handele es sich dabei allerdings nur um eine Einordnung von Medikamenten, die in den 1980ern von der WHO als Hilfestellung für die Therapie von Krebskranken zusammengestellt wurde.
Das Schema unterteilt nichtopiode Analgetika (oft OTC-Präparate), schwächer wirksame und stärker wirksame Opioide. Anfang der 2000er-Jahre wurde das Stufenschema auf andere Schmerzpatientinnen und -patienten einfach übertragen, mit dem Gedanken, dass auch diese von starken Opioiden profitieren würden. „In Amerika ist das ein bisschen außer Kontrolle geraten.“
Die Schmerzstärke lässt sich über Skalen wie VAS oder NRS erfassen. Allerdings wird das subjektive Schmerzempfinden von verschiedenen Komponenten beeinflusst. „Man weiß z.B. – das geht ein bisschen gegen die Lebenserfahrung –, dass Frauen und Jüngere stärkere Schmerzen empfinden.“ Gleiches gelte z. B. für Menschen, die bereits eine Schmerzerkrankung (Migräne, Rheuma) haben. Auch Angst, Depression und die generelle Stimmung beeinflussen die Schmerzwahrnehmung.
Für die Schmerzanamnese reichen aber die sensorisch-diskriminativen Faktoren nicht aus, so Prof. Michalek-Sauberer. Bevor eine Therapie startet, muss geklärt werden:
- Ist es ein neuropathischer, nozizeptiver oder inflammatorischer Schmerz?
- Schränkt der Schmerz Aktivitäten des täglichen Lebens ein? Wie stark sind die Funktionseinschränkungen?
- Wann tritt der Schmerz auf: Im Rahmen des Verbandwechsels/ der chirurgischen Versorgung/ nach Bewegung? Oder ist es ein chronisch gewordener Hintergrundschmerz?
Insgesamt gibt es für die Therapie viele verschiedene Möglichkeiten – topisch und systemisch – auch abseits des WHO-Stufenschemas, betonte Prof. Michalek-Sauberer. Das Therapieziel sollte sein, den Schmerz auf ein Level zu reduzieren, dass ein lebenswertes Leben möglich ist. Neben Schmerz, Mobilität und Funktion sollten auch Stimmung und Schlaf adressiert werden. Begriffe wie „das Recht auf Schmerzfreiheit“ sieht die Referentin kritisch: „Wenn wir uns das Ziel setzen, Patientinnen und Patienten schmerzfrei zu machen, dann werden wir scheitern“.
Nozizeptive Schmerzen
Akute, rein nozizeptive Schmerzen lassen sich gut bekämpfen, da steht nur die Suche nach dem richtigen Medikament im Vordergrund. Auf der ersten WHO-Stufe und damit an der Basis jeder Schmerztherapie stehen die nichtopioiden Analgetika. Die klassischen NSAR und die spezifischen COX-2-Hemmer wirken gut bei entzündlichem akutem Schmerz. „An und für sich sind das Top-Medikamente, sie haben nur das Problem, dass es gerade bei älteren (komorbiden) Patienten sehr viele Einschränkungen gibt“, so Prof. Michalek-Sauberer. Alternativ bleiben die Substanzen ohne entzündungshemmende Komponente, die aber oft auch weniger stark wirken. Im US-amerikanischen Raum wird meist Paracetamol eingesetzt. „Wir in Mitteleuropa sind in der glücklichen Lage, dass wir auch das Metamizol verwenden können, was da sicher deutlich besser wirkt.“
Bei den nichtopioiden Analgetika darf man nicht zimperlich sein. „Entweder ich gebe die Medikamente in einer ordentlichen Dosierung oder ich gebe sie nicht“, lautet das Credo der Schmerzexpertin. Es kann auch sinnvoll sein, ein nichtentzündungshemmendes Analgetikum mit einem entzündungshemmenden zu kombinieren. „Was absolut sinnlos ist, ist mehrere NSAR oder NSAR und COX-2-Hemmer zu kombinieren, da steigere ich nicht die Wirkungen, sondern nur die Nebenwirkungen“, betonte Prof. Michalek-Sauberer.
Auf der nächsten WHO-Stufe stehen die schwachen Opioide, dazu gehören beispielsweise Tilidin, Codein, Dihydrocodein und das in Österreich hauptsächlich benutzte Tramadol (Tilidin steht dort nicht zur Verfügung). Tramadol ist im eigentlichen Sinne kein Opioid, sondern eher ein Noradrenalin-/Serotonin-Reuptakehemmer (SSNRI). Es wird in der Leber erst zu dem aktiven Metaboliten verstoffwechselt, der dann seine Wirkung am μ-Opioidrezeptor entfaltet. Es gibt aber Nachteile: Bei einem geringen Prozentsatz der Menschen wird Tramadol entweder viel zu schnell metabolisiert, was zu massiven Nebenwirkungen führt, oder viel zu langsam verstoffwechselt, was die Effektivität auf ein kaum wahrnehmbares Niveau drückt. Aufgrund der Wirkung auf das Serotoninsystem besteht zudem die Gefahr, dass es im Zusammenspiel mit Medikamenten wie Antidepressiva oder Trizyklika zu einem serotonergen Syndrom kommt.
Die starken Opioide auf WHO-Stufe 3 haben alle gemein, dass man für ihre Verordnung ein spezielles Rezept braucht. Es gibt u. a. orale, transdermale, intravenöse, subkutane und sogar topische (Morphingel) Präparate. Zwar variieren die Opioide in ihrem Wirkprofil. „Aber sie unterscheiden sich im Wesentlichen weder in der Wirkung noch in der Nebenwirkung,“ betonte die Referentin. Einzig Buprenorphin scheint durch seine gute Aufnahmefähigkeit als Sublingualtablette und über Pflastersysteme nebenwirkungstechnisch etwas verträglicher zu sein. Wie Fentanyl deutlich macht, bergen starke Opioide ein hohes Abhängigkeitspotenzial – auch im Rahmen der Zulassung, weil schnell die „angenehme Opiatwirkung“ eintritt. Wichtig ist bei Opiaten, dass sich auch bei längerer Therapie keine Toleranz gegen die Obstipationsnebenwirkung bildet. Eine Prophylaxe sollte daher immer mitverordnet werden.
Chronische Schmerzen
Hinsichtlich der chronischen Schmerzen geht der Trend seit einigen Jahren weg von den Opiaten. Das liegt unter anderem daran, dass es sehr wenig Evidenz für eine gute Wirkung von Opioiden bei chronischer Anwendung gibt. Allgemein gilt, dass ein Morphinäquivalent > 120 mg/d nur in Ausnahmefällen überschritten werden sollte. „Wenn die Patienten mehr brauchen, sollte man mit Schmerzspezialisten Rücksprache halten“, riet die Expertin. Sollte man sich dennoch für eine langfristige Opioidtherapie entscheiden, müssen regelmäßige Kontrollen erfolgen:
- Profitiert der oder die Behandelte weiterhin von der Einnahme (weniger Schmerzen, mehr Aktivität/Teilhabe)?
- Wie steht es um Stimmung, kognitive und andere Nebenwirkungen wie hormonelle Veränderungen inkl. Libidoverlust, erektiler Dysfunktion, Depression?
- Gibt es Anzeichen für Fehlgebrauch?
Neuropathische Schmerzen
In ausgewählten Situationen können Opioide bei neuropathischen Schmerzen möglicherweise hilfreich sein. Im Allgemeinen spricht diese Art von Schmerz aber fast immer schlecht auf Opioide an. „Da kann ich die WHO-Stufen im Wesentlichen vergessen“, sagte Prof. Michalek-Sauberer. Berichten Patientinnen und Patienten, dass Diclofenac helfe, liege das eher am Placeboeffekt durch die Erwartungshaltung.
An erster Stelle beim neuropathischen Schmerz stehen Antidepressiva wie SSNRI, Trizyklika und Gabapentinoide. Auf Nummer zwei rangiert die topische Therapie. Capsaicin funktioniert z. B. gut bei peripheren neuropathischen Schmerzen (Post-Zoster-Neuralgie, diabetische Polyneuropathie). Tramadol werde eher weniger empfohlen und bei Botox sei die Evidenz überschaubar. Carbamazepin hilft nur bei der Trigeminusneuralgie und für Cannabinoide fehlt bislang die Evidenz.
SSNRI wirken über die gesteigerte körpereigene Schmerzunterdrückung. Reine Serotininreuptakehemmer wirken nur dahingehend schmerzlindernd, dass sich die bessere Stimmung positiv auf den Schmerz auswirkt. Bei Gabapentinoiden steckt zwar GABA im Namen, allerdings wirken sie nicht über die inhibitorischen Neurotransmitter, sondern blockieren spannungsabhängige Ca-Kanäle und hemmen die überschießende Erregung. Pregabalin ist außerdem zugelassen für die Behandlung von Angststörungen und wirkt schlafanregend – beides kann einen positiven Effekt auf chronische Schmerzpatienten haben. Allerdings hat man bei Pregabalin ein gewisses Abhängigkeitspotenzial entdeckt, weshalb man hinsichtlich des Missbrauchs aufpassen muss. Vorsicht ist auch dabei geboten, diese Substanzen, die zentral sedierend sind, mit Opioiden zu kombinieren.
Neben medikamentösen Optionen sollte man die Wichtigkeit der diversen nicht-medikamentösen Interventionen nicht unterschätzen. Die psychologische Komponente ist extrem wichtig, auch wenn die Betroffenen das nicht immer hören wollen. „Schmerztherapie ist immer multimodal, das gilt für die akuten, aber noch viel mehr für die chronischen Beschwerden.“
Nach der Uhr und nach Bedarf
Schmerz, wie er bei therapiebedürftigen Patientinnen und Patienten z.B. nach einer Verletzung oder OP vorkommt, verschwindet nicht innerhalb weniger Stunden. Die Schmerztherapie dauert ggf. so lange, wie die Abheilung, sagte Prof. Michalek-Sauberer. Betroffene sollten zudem nicht warten, bis der Schmerz unerträglich wird. Man nimmt die Medikamente (i. d. R. retardiert) nach der Uhr, je nach Wirkdauer zweimal oder dreimal am Tag, vorzugsweise oral. „Jeder, der schlucken kann, soll das Medikament auch schlucken“, so die Referentin.
Unretardierten Bedarfsmedikamenten muss man z.B. vor Verbandwechseln Zeit einräumen, bis sie ins Blut gelangen und wirken können. Für schwere Tumordurchbruchsschmerzen wurden daher die Fentanyl-Lollis entwickelt. Das stark lipidlösliche Fentanyl kann gut transmukosal aufgenommen werden, aber entfaltet dadurch schnell seine starke Wirkung (Cave: Atemdepression und Abhängigkeit). „Wir nutzen es beispielsweise (off-label) auf der Verbrennungsintensiv unter kontrollierten Bedingungen, aber man muss aufpassen!“
Quelle: Kongressbericht 4. WundD.A.CH DreiLänderKongress
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