Aggressive Patienten: „Solides Möbelstück“ schafft Distanz
Den Kurs „Sicher im Ärztlichen Bereitschaftsdienst und beim Hausbesuch“ haben mehrere bayerische Hausärzte zusammen mit Polizisten konzipiert. Die Idee dazu hatte Dr. Florian Vorderwülbecke. Der niedergelassene Allgemeinarzt ist auch Erstautor einer Studie zum Thema Aggression und Gewalt gegen Ärzte, die am Lehrstuhl für Allgemeinmedizin der TU München durchgeführt wurde.
Die Schulung dauert drei Stunden. In dieser Zeit erfahren die Teilnehmer am Beispiel realer Fälle, in welcher Form Ärztinnen und Ärzte Aggression und Gewalt ausgesetzt sein können. Die Teilnehmer sollen lernen, sich auf potenziell bedrohliche Situationen vorzubereiten. „Es geht darum, Gefahren bereits im Vorfeld zu erkennen und so möglicherweise zu vermeiden“, sagt Dr. Vorderwülbecke.
Selbstverteidigung: Ohne Übung nützt auch ein Pfefferspray nichts
„Einen Selbstverteidigungskurs bieten wir bewusst nicht an“, erklärt der Allgemeinarzt, der selbst Kampfsport-Erfahrung hat. In einer extremen Stresssituation könne man nur automatisierte Reaktionen wie Schutzreflexe oder regelmäßig und intensiv trainierte Bewegungsmuster abrufen. Auch vom Einsatz eines Pfeffersprays rät Dr. Vorderwülbecke ab. „In einem geschlossenen Raum, wenn zwischen Ihnen und dem Angreifer nur drei Meter Entfernung liegen, schaffen Sie es nicht, das Spray rechtzeitig aus der Tasche zu ziehen, auf das Gesicht zu zielen und abzudrücken.“ Keinem der Teilnehmer der bisherigen Kurse ist das bei einer Übung mit einem Wasserspray gelungen.
In einer brenzligen Situation sollten Betroffene lieber Kommunikationstechniken zur Deeskalation anwenden und eine Distanz zwischen sich und dem Angreifer schaffen, um weglaufen zu können. Die Kursleiter, eine Ärztin bzw. ein Arzt und ein Polizist vermitteln den Teilnehmern aber „realistische Eigenschutztechniken“, etwa wie man Kopftreffer verhindern kann.
Dr. Vorderwülbecke hat Gewalt und Aggression am eigenen Leib erlebt. Leichtere Fälle wie direkte Beleidigungen im Patientengespräch und Diffamierungen im Internet, die in der Studie von vielen Ärzten berichtet wurden, kommen in seiner Praxis nur äußerst selten vor.
Allerdings stand er im Bereitschaftsdienst schon einmal einem Drogenabhängigen gegenüber, der mit einem Messer in der Hand eine Einweisung ins Krankenhaus erzwingen wollte. Vor einiger Zeit hat er außerdem zwei anonyme Briefe erhalten, in denen der Autor ihm und seiner Familie wünschte, sie „sollen verrecken“.
Nach Auswertung der Studienfragebögen sieht der Kollege solche Erfahrungen als „normalen Durchschnitt“ an. In seiner Praxis fühlt er sich – wie die meisten Befragten – sehr sicher. Für problematisch hält er allerdings das System des ärztlichen Bereitschaftsdienstes. „Da gehen Sie nachts alleine ohne jede Absicherung in fremde Wohnungen, ohne genau zu wissen, was Sie erwartet.“ Dr. Vorderwülbecke empfiehlt, jeden Patienten vor dem Besuch anzurufen. So könne man oft schon im Vorfeld erkennen, ob etwas nicht stimmt.
Je zufriedener der Patient, desto weniger aggressiv
Mit einem Anruf ist es auch möglich, Patienten erste Ratschläge zu geben und ihnen die Gründe zu erklären, wenn es längere Wartezeiten gibt. Das steigert die Patientenzufriedenheit. Und internationale Studien haben gezeigt: Je zufriedener die Patienten sind, desto weniger Aggressionen gibt es.
Aber was tut man, wenn es trotz aller Vorsichtsmaßnahmen zum Streit kommt? Dr. Vorderwülbecke rät, als Erstes auf Abstand zu gehen und möglichst ein solides Möbelstück zwischen sich und den Aggressor zu bringen. Dann solle man die Person mit Namen ansprechen und nach dem Grund für die Aufregung fragen. Wichtig sei es, dem Patienten oder Angehörigen zu vermitteln, dass man ihn versteht, auf seiner Seite ist und ihm helfen möchte. Wenn alles nichts nützt: sich zurückziehen und die Polizei verständigen.
Reform ist nötig, um Ärzten mehr Sicherheit zu bieten
Eine wirkliche Verbesserung für die Sicherheit im Bereitschaftsdienst ist nach Ansicht von Dr. Vorderwülbecke aber nur durch eine Reform des Systems möglich: Jeder Ärztin und jedem Arzt sollte auf Wunsch ein medizinisch geschulter Fahrer an die Seite gestellt werden, der bei Bedarf auch bei der Behandlung der Patienten mithelfen kann.
Eines sollte man bei der ganzen Diskussion aber bitte nicht vergessen, sagt der Kollege: „Die allermeisten Patienten sind freundliche, liebe Menschen, die uns nichts Böses wollen.“