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Multimedikation: Unbeabsichtigte Verordnungskaskaden aufdecken

Autor: Dr. Elisabeth Nolde; Foto: BilderBox

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Viele ältere Patienten nehmen fünf und mehr Arzneimittel ein. Dadurch drohen Interaktionen, Nebenwirkungen und iatrogene Krankheiten!

Mehr als 40 % der Patienten über 65 Jahren nehmen fünf und mehr Arzneimittel ein. Dadurch drohen Interaktionen, Nebenwirkungen und sogar iatrogene Krankheiten! Wie lässt sich die Sicherheit und Qualität der Arzneitherapie gewährleisten?

Typisches Beispiel einer unkoordinierten Therapie: „Ein Kopfschmerzpatient erhält vom Hausarzt Paracetamol, vom Neurologen ein Triptan, vom Orthopäden wegen Nackenverspannungen Tetrazepam, vom Apotheker (OTC) Ibuprofen, und von der Nachbarin „weil alles nicht hilft“ Acetylsalicylsäure“.

Solche Multimedikation kann unspezifische Symptome wie Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Verwirrtheit und Schwindel auslösen. Vor allem multimorbide, ältere Menschen sind dadurch gefährdet zu stürzen. Oft treten als Interaktionseffekt auch „Funktions- störungen unklarer Ursache“ auf, die Verordnungskaskade eskaliert: Wegen dieser Symptomatik werden weitere Arzneimittel verschrieben, verdeutlichten Experten in der DEGAM*-Leitlinie „Multimedikation“.


Leiden Patienten gleichzeitig an zwei und mehr chronischen oder akuten Erkrankungen, sprechen die Autoren von Multimorbidität.

In einer repräsentativen Berliner Querschnittuntersuchung diagnostizierte man bei 88 % der über 70-Jährigen gleichzeitig mindestens fünf Erkrankungen. 

 


Weiterführende Infos finden Sie hier:

Dosierung bei eingeschränkter Nierenfunktion:
www.dosing.de

QT-Intervall-Verlängerung durch Pharmaka:
www.azcert.org

PRISCUS-Liste mit potentiell inadäquater Medikation (PIM) bei Älteren: http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf

Multimedikation bei hochbetagten/palliativen Patienten: www.sozialwerk-meiningen.de/sites/default/files/polypharmazieliste12-2012.pdf

Entwurf eines einheitlichen Medikationsplans der AMTS (Nationaler Aktionsplan Arzneimittelsicherheit):
www.akdae.de/AMTS/Massnahmen/docs/Medikationsplan.pdf

Auch zur kumulativen Polypharmazie liegen Daten vor:
42 % der über 65-jährigen Patienten bekommen fünf oder mehr Wirkstoffe innerhalb eines Quartals verordnet. Eine andere Analyse zeigte, dass rund 58 % der Patienten über 75 Jahren, die in einem Zeitraum von drei Monaten auf einer internistischen Station aufgenommen wurden, mehr als sechs Arzneimittel einnahmen. Die jeweiligen Einzelerkrankungen werden leitliniengerecht behandelt, doch die unerwünschten Wirkungen bzw. das Zusammenspiel der Wirkstoffe, können ernsthafte Komplikationen nach sich ziehen.


Oft fehlt zudem der Überblick über den gesamten Verordnungsprozess – auch wegen unzureichender Kommunikation zwischen den Beteiligten, so die Autoren der Leitlinie. Nicht nur bei Multimorbidität, auch bei chronischen „Einzel-Erkrankungen“ schlucken Patienten evtl. fünf oder mehr verschiedene Wirkstoffe.


Als weitere Ursache für Multimedikation gelten Fehlanwendungen, wenn z.B. trotz verändertem Krankheitsbild die Medikation weiter läuft. Die Umwandlung von rezeptpflichtigen in apothekenpflichtige Präparate birgt zudem Risken unbeabsichtiger Polypharmazie. Das betreffe v.a. Triptane, Protonenpumpenhemmer und nichtsteroidale Antirheumatika, so die Experten.


Selbsttherapie mit „Anti-Aging-Präparaten“ und vermeintlich harmlosen pflanzlichen Mitteln kann ebenfalls unkalkulierbare Interaktionen auslösen. Manch ein Patient nimmt auch gleichzeitig identische Substanzen verschiedener Hersteller ein, weil Betroffene den Überblick durch wechselnde Rabattvertragsmedikationen verlieren, schreiben die Autoren der Leitlinie.


Zu berücksichtigen seien zudem die veränderte Pharmakokinetik im Alter. Alarmierend: Etwa 6,5 % aller Krankenhauseinweisungen erfolgen wegen unerwünschter Arzneimittelwirkungen. 80 % dieser Fälle sind als schwerwiegend einzustufen.


Daher rufen die DEGAM-Autoren dazu auf, die Multimedikation aufs Korn zu nehmen: Patienten müssten vor der Einnahme eines unüberschaubaren Cocktails von Wirkstoffen geschützt werden. Der gesamte Verordnungsprozess sei zu begutachten.


* Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
www.pmvforschungsgruppe.de

 


Den Verordnungsprozess in acht Schritten sytematisch analysieren

  1. Bestandsaufnahme Alle relevanten Informationen zum Medikationsprozess sollte man mindestens einmal im Jahr erheben: Dabei werden persönliche Anliegen der Patienten, der aktuelle Medikationsplan, die „Medikamentenhistorie“, Anwendungsprobleme und die Adhärenz berücksichtigt werden.

  2. Medikation bewerten Zur kritischen Bewertung der aktuellen Medikation empfehlen die Leitlinienautoren die Fragen des Medication Appropriateness Index (MAI) zu nutzen (siehe www.pmvforschungsgruppe.de). Ermittelt werden dabei z.B. Indikation, Kontraindikationen, Interaktionen, Angemessenheit und Wirtschaftlichkeit der Therapie.

  3. Ziele abstimmen Vor neuer Therapieplanung, sollten die Vorstellungen und Erwartungen der Patienten erfragt und besprochen werden.

  4. Verordnungsvorschlag Auf Basis der vorangegangenen Analysen wird über das weitere Vorgehen entschieden: Dies reicht vom Beenden von Pharmakotherapien bis zu Neuverordnungen.Empfehlung der Experten: „Sofern möglich, bevorzugen Sie nichtmedikamentöse Strategien!“ – vorausgesetzt der Patient kann dies umsetzen.

  5. Kommunikation Nur gut informierte Patienten haben realistische Erwartungen hinsichtlich der Therapieziele, so lautet das Konzept der Partizipativen Entscheidungsfindung (shared decision making). Außerdem resultiert höhere Therapietreue.

  6. Abgabe der Arzneimittel bei Multimedikation Patienten sollten sich dauerhaft an eine Apotheke wenden, in der elektronische Medikations- und Interaktionsprofile erstellt werden können (Selbstmedikationen sind dabei zu berücksichtigen).

  7. Anwendung Die sichere Anwendung verordneter Arzneimittel muss gewährleistet sein. Mehrere Berufsgruppen, z.B. Apotheker, medizinische Fachangestellte oder Pflegekräfte, können dies unterstützen.

  8. Monitoring Behandlungsergebnisse und unerwünschte Wirkungen der Pharmakotherapie sollten erfasst werden, insbesondere bei kritischen Arzneimittelgruppen.


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